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Fallbeispiel: Ich weiß wo Du bist

Wolfgang Coy & Debora Weber-Wulff

Schmöditz, Bruskop und Zerbst (SBZ) ist ein regionales Versandhaus mit eigener Logistik. Die SBZ GmbH bedient ökologisch bewusste Kunden (,,Alles für den grünen Gartenzwerg: Von der Doppelaxt bis zum solargetriebenen Rüttelrost“ spottete Lars, der für die IT zuständig war). Sein Vorgänger Jürgen hat Wirtschaftsinformatik studiert und war inzwischen in der Geschäftsleitung – als CIO (Chief Information Officer), wie er gerne erzählte.

Die SBZ hatte eine exklusive Kooperation mit Baltics-Com, einer Firma aus Riga, die im großen Stil Waren für BSZ liefert. Von Baltics werden auch die Fahrer für die regionale Auslieferung in Deutschland gestellt, die Produkte aus verschiedenen zentralen Großhandelslagern direkt an die Endkunden von SBZ ausliefern. Die LKWs gehören freilich SBZ – wie auch den Reklameaufklebern zu entnehmen ist. Die logistische Zusammenarbeit führt zu deutlichen Einsparungen.

Direkt nach der Mittagspause kommt Jürgen in Lars’ Büro. Er hatte neulich gelesen, dass unangenehme Gespräche leichter nach dem Mittagessen zu führen seien. Aber wahrscheinlich gibt es gar kein echtes Problem. Lars ist halt Vollblut-Informatiker und daher manchmal etwas stur.

Jürgen: ,,Es geht um unsere Kooperation mit Baltics.“

Lars: ,,Ich weiß – Entwicklungshilfe unter Freunden.“ (… und Euer Lohnparadies – wo ihr sicher bald auch die Informatiker entdeckt; aber das behielt er für sich).

,,Tja und die Freunde scheinen unsere LKWs für eigene Geschäfte zu nutzen.“, fährt Jürgen fort.

,,Das wäre aber schon arg vertragswidrig. Wie kommst Du darauf?“, fragt Lars nach.

,,Ich hab verschiedene Rechnungen angestellt. Ich erwarte ja nicht von den Fahrern, dass sie das Traveling-Salesman-Problem in Echtzeit lösen, aber die gefahrenen km-Leistungen sind laut Tacho schon viel mehr als die Strecken, die ich zusammenstellen würde. Und: Du weißt ja, dass wir eingebaute Telefone haben. Es wurden mehrfach Nummern der DKW angerufen – unser schärfster Konkurrent, dem eine logistische Dienstleistung der Baltics gerade recht käme – und das mit unseren LKWs! Für die Fahrer ein gutes Zusatzeinkommen, wenn sie nebenbei für DKW was ausliefern, könnt ich mir vorstellen. Vielleicht auch für Baltics.“

,,Du hast sie abgehört?“

,,Sei nicht albern, das kriegen wir doch gar nicht hin – und verboten wäre es auch. Aber unsere Telefonrechnung weist Verbindungsdaten nach – minus den letzten drei Stellen. Auf den Telefonen sollten nur Gespräche mit unserer Zentrale geführt werden, alles andere erledigen wir von hier aus. Es gibt aber Gespräche mit der Vorwahl der DKW und deren ersten Ziffern. Jedenfalls kam das vor fünf Wochen zweimal vor; seitdem allerdings nicht mehr.“

,,Na also. Zufall. Verwählt.“

Jürgen fixiert ihn: ,,Verwählt schon, aber nur in der Wahl des Telefons, denn die Fahrer benutzen wohl jetzt ihre Handys. Ihnen wird die Schwachstelle aufgegangen sein. Oder DKW hat ihnen Handys gegeben.“

,,Dann können wir technisch nix machen. Aber den Vertrag mit Baltics kündigen können wir auch nicht. Wir haben weder Beweise noch eine Alternative.“

,,Richtig: wir brauchen Beweise und die besorgst Du. Ich hab mir folgendes überlegt. Unsere eingebauten Telefone und Navis fliegen raus und werden durch nagelneue Tablets ersetzt. Ist eh billiger. Jeder Fahrer kann damit telefonieren – für den Arbeitseinsatz, versteht sich.“

Lars blickt skeptisch: ,,Ja und? Mit dem Tablett kann man doch garnicht anrufen. Da geht doch nur Mobilfunk um Internet aufzubauen?“

Jürgen seufzt: ,,Darum geht es doch gar nicht. Es gibt da eine App, die heißt ,,WoIstMeinPad?“ Damit kann man per Internet über die Mobilfunkverbindung einfach die Geokoordinaten feststellen, wo sich unser Tablet aktuell befindet. Und da es im LKW eingebaut wird, kriegen wir auch mit,wo unser LKW gerade ist – falls er geklaut wird. Nur falls jemand nachfragt: Das ist der Grund für diese App. Aber solche Fragen wollen wir gar nicht erst provozieren: Deshalb schreibstDu jetzt eine selbststartende App, die regelmäßig, so alle 20 Minuten, die GPS-Koordinaten speichert und sie an unseren Server sendet. Den Kern-Code hab ich als Open Source für eine Geo-Caching-Anwendung gefunden, der Rest ist ja wohl nicht allzu schwierig. Und nenn’ die App Kalorienzähler oder so. Etwas, was keinen interessiert.“

Lars sieht ihn irritiert an: ,,Das mach ich nicht. Das wäre Bespitzeln unter Freunden – auf eine bloße Vermutung hin. Find ich unmöglich!“

Doch Jürgen lässt sich nicht bremsen: ,,Komm mal wieder runter und hör zu. Die Situation ist doch klar:

Die benehmen sich vertragswidrig so wie es aussieht.

Wir hören nicht ab, das dürfen und können wir nicht.

Das Tablet dient für die gemeinsame Arbeit als Navi und Lieferverwaltung.

Wir sichern unser Eigentum, den Lkw und halt auch unser Tablet.

Alles klar?“ Jürgen schaut seine Armbanduhr an. ,,Ich muss weiter.“ Mit diesem effektvollen Plädoyer verlässt er den Raum.

Lars fühlt sich extrem unwohl. Soll er jemanden überwachen – auf einen so vagen Verdacht hin? Wenn Jürgen sicher ist, warum spricht er das Thema nicht bei der Geschäftsleitung von Baltics an – oder schaltet einen Anwalt ein? Freilich:Wenn die App erst mal installiert ist, kann jede Aktivität der LKWs und damit der Fahrer protokolliert werden. Dann können auch die Intervalle verkürzt werden. Begründeten Verdacht braucht Jürgen dann nicht mehr. So gesehen, hat das Ganze einen gewissen Sinn für SBZ, selbst wenn alles im Sande verläuft. Aber was kann er tun?

Wenn die SBZ einen Betriebsrat hätte, könnte er mit ihm die Sache besprechen, aber so ein Formalkram schien bisher unnötig. ,,Wir regeln Probleme unter Freunden“, sagen ihm die Kollegen und Chefs. Und Lars fragt sich auch, was ein Betriebsrat hier tun würde. Die rechtliche Situation scheint wirklich eindeutig, oder?

Die Firmenchefin ansprechen (,,Nenn mich Daniela!“)? Sie ist jetzt dauernd in der neuen Niederlassung – und hat sicher kein Interesse an einem solchen Technikkram, wie sie alles, was nicht ,,strategisch bedeutsam“ ist, gern nennt.

Zur Presse gehen? Er muss über sich selber lachen. Wem sollte das eine Zeile wert sein?

Verweigert er die Arbeit, drohen ihm freilich Abmahnung oder gar Kündigung. Jürgen macht das, da ist er sich sicher. Und er braucht den Job. Soll er ihn riskieren wegen einiger Fahrer, die sich vielleicht wirklich unrechtmäßig verhalten? Vor einem Arbeitsgericht müsste die Firma wohl nur ,,bewusste Arbeitsverweigerung“ sagen, um sogar seine fristlose Kündigung durchzusetzen.

Was würden Sie tun?


Erschienen im Informatik Spektrum 36(5), 2013, S. 478–479

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