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Fallbeispiel: Inspiration

Christina B. Class, Rainer Rehak

Andrea ist bei allen ihren Kommilitonen sehr beliebt und lacht viel. Als sie an einem Nachmittag beim Beachvolleyballspiel plötzlich bewusstlos wird und stürzt, sind alle sehr betroffen. Im Krankenhaus wird festgestellt, dass sie an einer bisher nicht diagnostizierten Diabetes und einer Schilddrüsenunterfunktion leidet. Dazu kommen Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Die Ärzte raten Andrea, ihr Gewicht etwas zu reduzieren, und geben ihr verschiedene Medikamente. Sie soll zudem ihre Ernährung genau protokollieren, um die Nahrungsmittelunverträglichkeiten detailliert festzustellen. Andrea findet das alles recht kompliziert und sucht sich Unterstützung durch diverse Apps für ihr Smartphone. Da keine einzelne der Apps ihren Anforderungen genügt, verwendet sie verschiedene Apps gleichzeitig, um Kalorienaufnahme und -verbrauch, Gewicht, Ernährungspläne, Sportaktivität, Blutdruck, Blutzucker und noch andere Daten zu erfassen.

Beim Picknick zusammen mit ihren Freunden sieht Eva, die sich ihr Studium mit der Entwicklung von Apps finanziert, wie Andrea mit den verschiedenen Systemen hantiert. Eva meint spontan, sie sollten doch einfach gemeinsam eine App entwickeln, die Andrea unterstützen kann. Mit Chris, der Medizin studiert, setzen sie sich zusammen und entwickeln eine auf Andreas Bedürfnisse zugeschnittene App. Sie verbinden diese mit den Signalen von einer Fitnessuhr sowie den Daten eines neuartigen Blutzuckermessgeräts. Eva implementiert außerdem eine Verschlüsselung der gemessenen Informationen, so dass selbst die für Backups exportierten Daten vor fremdem Zugriff geschützt sind. Chris meint eines Abends spaßeshalber, sie sollten doch einfach eine Firma gründen, es sei doch alles vorhanden. Gesagt, getan, so entsteht einige Wochen später die ACE GmbH, und sie stellen die entwickelte App mit einem geringen Preis, aber unter der freien GNU General Public Licence (GPL) mit dem Namen „FitUndGesund“ per Appstore zur Verfügung.

Nach einiger Zeit entdeckt eine Nahrungsmittelwissenschaftlerin die App zufällig und installiert sie testweise. Sie ist sofort begeistert von den Möglichkeiten und stellt die App in einem Erfahrungs- und Testbericht auf ihrem reichweitenstarken Gesundheitsblog vor. Daraufhin steigen die Downloadzahlen der App von wenigen Downloads pro Woche auf Dutzende pro Tag an.

Auf diese Weise wird auch Franka von der FutureFit AG auf die App aufmerksam. Sie leitet das Entwicklungsteam für das neue Fitnessarmband der Firma, das mit modernen Sensoren ausgestattet werden soll. Die FutureFit hat in letzter Zeit Marktanteile verloren und daher ist ein Erfolg des Fitnessarmbands für die Zukunft der Firma dringend angeraten. Dem Team um Franka fehlt es bisher jedoch an überzeugenden neuen Ideen, mit denen sie sich von der Konkurrenz abheben können. Hier kommt ihr die App „FitUndGesund“ gerade recht. In der nächsten Teamsitzung weist sie Jörn auf die App hin und bittet ihn, sie zu testen und sich für Möglichkeiten zur Nutzung der Daten vom FutureFit-Armband inspirieren zu lassen. Jörn lädt die App sogleich herunter und ist hellauf begeistert. Sie passt wunderbar zu den ohnehin angedachten Use Cases und stellt die gesammelten Daten auf verblüffend intuitive Weise dar. Damit könnte man das Fitnessarmband erfolgreich auf dem Markt platzieren. Um genauer zu verstehen, wie die App die Daten analysiert, lädt er den Quellcode herunter. Je mehr er sich die App ansieht, umso mehr ist er von der Arbeit der drei Studenten beeindruckt; sowohl von der Softwarequalität als auch vom Bedienkonzept her. Etwas Ähnliches zu erstellen würde ziemlich aufwändig sein, zumal die Geschäftsleitung zunehmend Druck macht.

Aber die Studenten haben das ganze ja unter einer freien Lizenz zur Verfügung gestellt, da könnte er den Code doch einfach frei verwenden. Gedacht, getan. Durch die Verwendung des App-Codes kann Jörn die Werte der Armbandsensoren in die Anwendung integrieren und die Oberfläche anpassen. Da er zukünftige Kooperationsmöglichkeiten offenhalten bzw. sie nicht unnötig technisch erschweren soll, entfernt er kurzerhand die von Eva eingebaute Verschlüsselung der Daten und baut noch eine Sharing-Funktionalität ein. Jörn denkt sich dabei nur scherzhaft: „Wer das Armband und die App benutzt, der legt eh keinen Wert auf Datenschutz“. Nach mehreren Wochen intensiver Arbeit, stellt er die App in der nächsten Teamsitzung vor. Franka ist begeistert. Sie erkundigt sich, ob die App sich ausreichend von „FitUndGesund“ unterscheidet, man wolle ja keine Probleme mit ACE bekommen. Jörn schaut sich verstohlen um und meint dann etwas unsicher: „Ja, das ist nun unsere Entwicklung! Das kann man doch schon an der Benutzerführung erkennen!“

Ein paar Monate später ruft Chris die anderen ACE GmbH Gesellschafter Eva und Andrea für ein dringendes Treffen zusammen. Die drei finden sich auch zeitnah wieder auf der Picknickwiese ein und so berichtet Chris von einem aktuellen Paper eines Medizinjournals, das er regelmäßig liest. Dort hatte eine Arbeitsgruppe anhand genau der medizinischen Daten, die auch ihre App abfragt, die Neigung zur Alkoholsucht mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen können. Ihre App wird sogar namentlich erwähnt. Nun überlegen sie, ob sie die App aus dem Store nehmen, eine Warnung einbauen oder einfach nichts tun. Die Daten selbst können ja die App nicht einfach so „verlassen“ und liegen selbst exportiert nur verschlüsselt vor, somit können die Daten ihrer App gar nicht für andere Zwecke verwendet werden. Die drei beschließen, erstmal eine Nacht darüber zu schlafen.

Auf dem Nachhauseweg beschleicht Eva ein zunehmend komisches Gefühl. In einem Entwicklerforum hatte sie vor kurzem eine Diskussion über die GPL-Lizenz bei Apps mitbekommen. Einige waren der Meinung, dass man sich von solchen Apps problemlos inspirieren lassen und auch den Code verwenden dürfe. Solange man nicht den ganzen Code nutzt, sei das ja wohl kein Problem. Ob vielleicht doch der Code ihrer App von anderen verwendet wird? Immerhin ist sie in letzter Zeit recht bekannt geworden. Zu Hause angekommen, setzt sie sich sofort an ihren Computer und programmiert ein Script, das alle Apps aus dem Fitnessbereich des Appstore herunterlädt und deren Binärcode nach den Zeichenketten, Funktions- und Symbolnamen ihrer eigenen App durchsucht. Das kann zwar Stunden dauern, aber bis zum Morgen sollte es durchgelaufen sein. So kann sie wenigstens noch etwas schlafen. Am nächsten Morgen wacht sie auf und schaut sogleich auf die Ergebnisse. Die neue Fitness-App einer gewissen FutureFit AG hat eine Übereinstimmung von 82 %, das kann kein Zufall sein. Sofort ruft sie die beiden anderen an …

Fragen

  1. Ist es vertretbar, dass Andrea, Chris und Eva eine App, die viele sensitive Daten sammelt, ohne weitere externe Beratung veröffentlichen?
  2. Ist GPL eine geeignete Lizenz für eine solche App? Oder ist GPL eventuell sogar eine gebotene Lizenz, damit jederzeit überprüft werden kann, was mit den Daten geschieht und dass diese nicht verändert werden?
  3. Franka hat ihrem Team den klaren Auftrag gegeben, sich von einer bestimmten App inspirieren zu lassen, um ihrer Firma aus Schwierigkeiten zu helfen. Ist dies moralisch vertretbar? Wie weit darf eine solche Inspiration gehen?
  4. Jörn hat sich durch die App nicht nur inspirieren lassen, sondern den Quelltext mit der Absicht zu kopieren genau studiert. Ist es unter diesen Umständen vertretbar, den Quelltext genau zu studieren? Oder hätte Jörn davon Abstand nehmen sollen?
  5. Jörn hat ganz bewusst den Verschlüsselungsteil entfernt, um „Kooperationsmöglichkeiten offenzuhalten“, also die anderweitige Nutzung sensibler Daten zu ermöglichen.Wie bewerten Sie diese Herangehensweise? Stehen Firmen nicht zunehmend unter Druck, die gesammelten Daten zu nutzen und auszuwerten, um konkurrenzfähig zu bleiben? Was für Folgen hat das?
  6. Sollte Franka noch weiter bezüglich des ACE-Quellcodes nachhaken, weil die Unsicherheit von Jörn ja merkbar war? Oder kann sie sich zurücklehnen und mit seiner Antwort zufrieden geben?
  7. Verschiedene Sensoren in Verbindung mit Gesundheits-Apps können dabei helfen, die Körperfunktionen zu überwachen und gesundheitliche Probleme festzustellen oder Sportdaten zu analysieren. Durch Data Mining etc. geben diese Daten zunehmend auch implizite Informationen preis, insbesondere „Risiken“, „Tendenzen“, können ermittelt und zum Nachteil der / mit negativen Konsequenzen für die Benutzer ausgelegt werden. Muss dies um der gesundheitlichen Vorteile willen hingenommen werden? Gäbe es Wege, dies zu verhindern?
  8. Gibt es irgendwelche moralische Bedenken betreffend des Skripts, das Eva geschrieben hat, und das den Binärcode von Apps durchsucht?
  9. Wie sollten die Drei nun vorgehen und warum?

Erschienen im Informatik-Spektrum 40(6), 2017, S. 607-609.

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