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Fallbeispiel: »Kollateralschaden«

Constanze Kurz & Stefan Ullrich

Manfred ist trotz seines für Online-Verhältnisse hohen Alters von den neuen Möglichkeiten, die das »Web 2.0« bietet, begeistert. Es fing alles mit »Mindbook« an, einer Mischung von Tagebuch, Notizblock und Poesie-Album für Freunde. Inzwischen verbringt er seine Abende gern bei Formspring. Diese Plattform erlaubt das Interagieren mit Bekannten und Fremden nicht nur über das eigene Profil, sondern auch mit Hilfe eines Frage-Antwort-Spiels, das durchaus eingehend sein kann. »Welche Whisky-Destillerie würdest Du gern besichtigen?«, »Welche Wim-Wenders-Filme magst Du?«; manchmal werden auch religiöse und politische Weltanschauungen thematisiert, oft ist Formspring aber einfach ein Flirt-Forum.

Manfred hat seine Freundin Franziska selbstverständlich über Formspring kennengelernt. Die beiden nutzen die neuen Möglichkeiten ausgiebig, aber haben schon von Anfang an grundsätzlich geklärt, was über ihre Beziehung im Netz stehen soll – und was nicht. Die beiden posten Urlaubsfotos, Berichte über langweilige Familienessen und Links zu Webseiten, die sie toll finden – und bekommen regelmäßig Kommentare von einer stetig wachsenden Zahl von »Freunden«. Zu den Freunden zählen auch Karsten, der leibliche Sohn von Manfred sowie die Verwandten von Franziska, die sich neuerdings ein Netbook zugelegt haben.

Karsten hat soeben eine Stelle als Sachgebietsleiter des örtlichen Finanzamtes angetreten. Bei seiner ersten Betriebsfeier sprechen ihn plötzlich mehrere Kollegen auf seinen letzten Urlaub an. »Na, wie war es in Malé?«, fragt ihn die Stellvertreterin des Vorstehers und spricht ihm Glückwünsche aus. Karsten ist irritiert, er hat von seinem Kurzurlaub auf den Malediven nie im Amt erzählt, es war eine luxuriöse Reise, die er sich zum fünften Jubiläum ihrer Hochzeit mit seiner Frau Linda gegönnt hat. Und was sollen die Glückwünsche? Er fragt aber nicht nach, sondern antwortet einsilbig und lenkt dann vom Thema ab.

Am Montag nach der Feier spricht Karsten in der Kaffeepause mit seinem Freund und Kollegen Dirk, dem er vertraut, und fragt ihn unverblümt, woher die Kollegen von seinem Maledivenurlaub gewusst hätten. Ein wenig hat er Dirk im Verdacht, es ausgeplaudert zu haben. Dirk gesteht Karsten, er habe vermutlich indirekt dazu beigetragen. In Dirks Freundesliste bei Mindbook seien jetzt immer öfter auch Kollegen zu finden. Da sei es nur verständlich, dass sie auch Karstens Mindbook-Profil finden würden, da sie ja gegenseitig auf ihren Freundeslisten seien.

Karsten stutzt, er hat über den Urlaub absichtlich nichts auf seiner Mindbook-Pinnwand verlautbart, er wollte die Luxus-Tour nicht breittreten. Jedoch hatten Karsten und Linda im Urlaub ein paar Fotos mit ihren Mobiltelefonen an die Eltern verschickt, die sie als zufriedene Urlauber unter Palmen und bei Sonnenuntergang am Meer zeigen. Karsten eilt mit einer bösen Vorahnung in sein Büro an den Rechner. Sein Vater Manfred und dessen Freundin Franziska haben tatsächlich eines der Bilder nicht nur auf ihren Mindbook-Pinnwänden veröffentlicht, Franziska hatte als stolze zukünftige Großmutter auch eine kleine Bildunterschrift hinzugefügt: »Wenn man genau hinsieht, erkennt man schon die kleine Rundung, die die Ankunft unseres Enkelchens verrät.« Bei Formspring unterhält sie sich seit Neuestem über die Pflichten einer »Vorbild-Oma«.

Karsten ist entsetzt, was fällt seiner Stiefmutter ein? Was geht das die Welt an, dass er und seine Frau ein Kind erwarten? Und was soll das mit dem Foto, sie hätte wenigstens mal fragen können. Es ist ihm peinlich, dass diese privaten Details jetzt Thema unter den Kollegen sind.

Als Franziska mit den Vorwürfen konfrontiert wird, versteht sie die Aufregung nicht. Auch Manfred findet, dass sein Sohn überreagiert habe, da sei doch nun wirklich nichts dabei, das sei doch die natürlichste Sache der Welt, die man nicht geheim halten müsse. Die Kollegen würden doch viel verständnisvoller reagieren, wo sie doch jetzt von der Schwangerschaft wüssten. Außerdem hätten sie es sowieso erfahren, wenn Karsten Elternzeit beantragt hätte.

Fragen:

  • Franziska und Manfred haben die Bilder für alle Nutzer sichtbar auf ihre Pinnwand gestellt. Macht es einen Unterschied, wenn sie den Lesezugriff nur »Freunden« und »Freundes-Freunden« gestattet hätten?
  • Sollten Anbieter von »social media« hier irgendwelche Vorkehrungen treffen, so dass es schwieriger ist, ein Foto für »alle« einsehbar zu machen als beispielsweise für »Freunde«?
  • Wie ist es ethisch zu bewerten, dass Dirk seinen Kollegen den Hinweis auf die öffentlich einsehbaren Fotos gegeben hat? Ist nicht hauptsächlich Dirk sogar schuld daran, dass die Bilder im Kollegenkreis verteilt wurden?
  • Haben Karsten und seine Frau Linda die Verpflichtung, den Empfänger über etwaiges Stillschweigen zu informieren?
  • Karsten und Linda nutzen selbst »social media«. Wäre die Situation eine andere, wenn die beiden nicht bei »Mindbook« wären?
  • Sollte man höflicherweise Informationen, die man online über eine Person erfahren hat, diese im Gespräch besser nicht erwähnen?
  • Wenn Bereichsleitung und Kollegen von privaten Umständen Kenntnis erlangen: Was könnten mögliche Folgen sein und wie sind diese moralisch zu bewerten?

Erschienen in Informatik Spektrum 35 (2), 2012, S. 156–157

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