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Fallbeispiel: Pfade des Lernens

Constanze Kurz & Stefan Ullrich

Franziska arbeitet am Lehrstuhl der Informatik-Professorin Andrea Abend, die sich schwerpunktmäßig mit E-Learning-Systemen und in letzter Zeit besonders mit Educational Data-Mining beschäftigt. Ihr Lehrstuhl kooperiert mit Kollegen anderer Fachrichtungen, um interdisziplinäre Forschung in dem noch recht neuen Gebiet zu ermöglichen.

Manuel ist mit Leib und Seele Ethnologe und seit zwei Monaten als wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem neuen Projekt, in dem auch Franziska mitwirkt. Ihn faszinieren die Erkenntnisse, die er aus der Beobachtung von Menschen in ihrer alltäglichen Umgebung erlangt. Im Kooperationsprojekt »Pfade des Lernens« bringt er das Beobachtungskonzept ein. Entwicklerin Franziska setzt das Konzept um, es wird auch sofort als Pilotverfahren in ihrer eigenen Lehre getestet.

Manuel weiß aus seiner bisherigen Arbeit: Je mehr Daten er über die Lernenden erhält, desto bessere Schlüsse kann er daraus ziehen und in der Folge durchdachte didaktische Konzepte für zukünftige Studierende entwerfen. Wie bei jeder guten Beobachtung sollen die Daten jedoch nur anonym vorliegen, so dass keine personenbezogenen Aussagen getroffen werden können.

Die Software wird während des Einsatzes aufzeichnen, wer wann welche Materialien heruntergeladen hat und in welcher Reihenfolge die Zugriffe erfolgten. Zudem wird festgehalten, wie lange und zu welchen Uhrzeiten die Lernplattform aufgesucht wurde. Ausgewertet werden soll dann in Zukunft, ob es messbare Zusammenhänge zwischen den später durch die Prüfungen ermittelten Lernerfolg und der Art der Nutzung der Plattform gibt. Zudem sollen Erkenntnisse über Unterschiede in Benutzung und Lernerfolg von Männern und Frauen sowie Menschen mit Migrationshintergrund gewonnen werden.

Prof. Abend als Projektverantwortliche und Franziska als Entwicklerin haben umfassende Administrationsrechte und Zugriff auf alle Daten. Manuel hingegen bekommt eine zusammenfassende Auswertung und hat nie gefragt, ob er umfassendere Rechte für die Software bekommen könnte. Ihm ist die technische Umsetzung ein Rätsel geblieben, ohnehin interessierten ihn von vorneherein die Ergebnisse und nicht die technischen Details.

Das Projekt läuft gut an, sowohl die Programmierung als auch die Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaftlern ist gelungen. Doch es taucht ein Problem auf, als die Plattform erstmals in der Lehre praktisch getestet werden soll. Franziska und Manuel stellen das Konzept und die Umsetzung gemeinsam in der ersten Seminarstunde den Studenten in Ruhe vor. Nach ein paar Minuten meldet sich ein junger Student, Yorick. Er ruft entrüstet: »Ich möchte aber nicht Ihr Versuchskaninchen sein, es geht nur mich etwas an, wie und wann ich lerne!«

Es entsteht eine heftige Diskussion im Seminar, während der sich die Meinungen der Studenten in drei Lager teilen: Die einen empfinden es als unerträglich, ständig beim Lernen beobachtet zu werden, die anderen betrachten es als ausgesprochen sinnvoll, Lernprozesse zu messen und für die künftige Verbesserung der Lehre nutzbar zu machen. Und schließlich gibt es die Gruppe, denen das herzlich egal ist. Sie haben sich ohnehin daran gewöhnt, dass Administratoren und Webseitenbetreiber ständig einen Blick über ihre Schulter werfen, außerdem wollen sie im Grunde nur den Schein und keinen ideologischen Streit.

Fragen

  • Welche ethischen Probleme sehen Sie beim Einsatz von Lernanalyse-Werkzeugen?
  • Besteht bei diesen Problemen ein Unterschied darin, ob die Plattform Daten erhebt, die den Lernenden direkt zugeordnet werden können?
  • Macht es einen Unterschied, ob die Daten permanent oder nur kurzfristig gespeichert werden?
  • Angenommen, beim tatsächlichen Einsatz der Software würde Franziska von ihren Datenzugriffsrechten als Administratorin Gebrauch machen. Welche zusätzliche ethischen Probleme sehen Sie?
  • Ist die Förderung solcher Formen der detaillierten technischen Analyse von individuellen Lernprozessen prinzipiell vertretbar?
  • Verstehen Sie die kategorische Ablehnung der Software durch einige Studenten? Welche Möglichkeiten der »digitalen Selbstverteidigung« sehen Sie?
  • Eine andere Gruppe der Studenten argumentiert, dass die Auswertung ihres Lernprozesses künftigen Studierenden eine bessere Lehre ermöglichen könnte. Sind die Gegner angesichts dieses potentiellen Vorteils nicht auch verpflichtet, an das Wohl nachfolgender Studentengenerationen zu denken?
  • Ist es ein Problem, dass Manuel die technischen Möglichkeiten der Erfassung der Handlungen der Lernenden gar nicht kennt?
  • Professor Abend verdankt der Software ganz neue Erkenntnisse über ihre Studenten. Besonders eine Studentin ist online sehr fleißig, stellt neue Diskussionsbeiträge ein und schaut sich regelmäßig die Folien an. Dabei war sie in den Präsenzveranstaltungen eher etwas ruhiger. Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass die Software auf den Eindruck der Lehrperson einwirkt?

Erschienen in Informatik Spektrum 36(4), 2013, S. 416–417

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