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Fallbeispiel: Profiling

Constanze Kurz & Debora Weber-Wulff

Herbert, ein ehemaliger Rechenzentrumsmitarbeiter, der seit kurzem im Ruhestand ist, wartet ungeduldig auf den Postboten. Er hat vor vier Tagen einen neuen Laptop über einen großen Versandhändler bestellt. Normalerweise dauert es nur zwei bis drei Tage, bis die Ware geliefert wird; Herbert war schon öfters Kunde dort. Als auch nach mehreren Tagen kein Paket angekommen ist, setzt er sich an den Rechner um im Tracking-System des Versandhändlers nachzuschauen, wo sein Laptop bleibt.

Herbert glaubt seinen Augen nicht, als er nachgeschlagen hat: Die Bestellung ist vor zwei Tagen storniert worden – aber nicht von ihm selber, da ist er sich ganz sicher. Er hat sich ja gefreut, bei einer Sonderaktion den Laptop sogar mit Rabatt bekommen zu haben. Er ruft sofort bei der Hotline an, um zu fragen, was Sache ist.

Nach einer gefühlten Ewigkeit ist jemand am anderen Ende der Leitung, mit dem er sprechen kann. „Was ist mit meiner Bestellung?“, fragt Herbert ungeduldig. Eine Frau antwortet: „Ihre Bestellung wurde storniert.“ Herbert weiß das bereits: „Das sehe ich selber, aber das war ich nicht. Ich will wissen, warum sie storniert wurde. Außerdem möchte ich den Computer nochmal bestellen, genau zu den Sonderkonditionen, die vor vier Tagen galten.“

Die Frau an der Hotline murmelt nur: „Tut mir leid, ich kann leider nur sehen, dass Ihre Bestellung storniert wurde. Ich kann nicht sehen, warum. Und die Rabattaktion ist bereits abgelaufen. Kann ich Ihnen sonst behilflich sein?“ Herbert legt grußlos und wütend auf.

Er beschließt zu testen, ob das Problem grundsätzlicher Natur ist oder nur diese eine Bestellung des Laptops betraf. Er sucht sich eine Kleinigkeit zum Bestellen heraus, klickt auf „Kaufen“, wie immer auf Rechnung. Und in der Tat – zwei Tage später ist auch diese Bestellung storniert.

Am Wochenende kommt seine Tochter Inga zum Kaffeetrinken vorbei; sie wohnt in einem kleinen Häuschen in einem anderen Stadtteil. Als er sich über das Verhalten der Firma beschwert, erzählt Inga, dass sie und ihr Freund auch Probleme mit derselben Versandfirma hatten. Ihr Freund hatte recht viel Ware bestellt, aber die Rechnungen nicht sofort bezahlen können, weil er ein kurzzeitiges Liquiditätsproblem in seiner Firma hatte. Jetzt können nicht nur er, sondern sie beide überhaupt nichts mehr online bestellen, weder bei dieser Firma noch bei anderen größeren Händlern.

 

Herbert weiß natürlich, dass die Online-Händler schwarze Listen von Kunden führen, um einander vor potentiellen Betrügern zu warnen. Er hat ein gewisses Verständnis für solche Listen, denn in seinem Berufsleben hatte er sich mehr als einmal über säumige Zahler geärgert. Aber er selbst hat immer seine Rechnungen pünktlich bezahlt, er versteht nicht, warum er plötzlich nichts mehr bestellen kann.

Er erinnert sich daran, dass ein jüngerer ehemaliger Kollege, Sven, vor einigen Jahren zu dieser Versandfirma gewechselt war. Vielleicht könnte er helfen! Herbert sucht seine E-Mail-Adresse heraus und fragt ihn, ob er vielleicht aufklären kann und wisse, was da los sei.

Sven ruft gleich am nächsten Tag an und bittet Herbert, das Problem genau zu schildern. Nachdem Herbert seine Leidensgeschichte erzählt hat, meint Sven: „Wir haben gerade vor einigen Wochen eine neue Profiling-Software scharf geschaltet. Vielleicht liegt es daran.“ Herbert fragt nach, wie diese Profiling-Software funktioniert. Sven erklärt: „Unser System basiert auf einer Kombination neu entwickelter Data-Mining-Algorithmen, um möglichst präzise vorherzusagen, welche Kunden ihre Rechnungen bezahlen werden und welche nicht. Weißt Du, wir haben eine Ausfallrate von etwa sieben Prozent der Rechnungen, das ist natürlich viel zu hoch. Wir müssen dann immer Inkasso-Firmen beauftragen, und es dauert ewig, bis wir das Geld für Waren bekommen, die schon längst ausgeliefert worden sind. Ich schau mal nach, ob Du wegen unserer neuen Software nicht mehr auf Rechnung kaufen kannst.“

Ein paar Stunden später schon ruft Sven zurück. „In der Tat, Herbert, Du bist mit einem Problem-Flag versehen. Wenn ich das Ergebnis der Algorithmen korrekt interpretiere, wurdest Du klassifiziert als hochwahrscheinlich eng verwandt oder wohnlich verbunden mit einem Großschuldner. Du hast ja nun keinen Allerweltsnachnamen, es gibt Deinen Namen laut unserer Datenbank nur achtmal in Deutschland und nur zweimal in Deiner Stadt. Statistisch ist übrigens nachweisbar, dass Verwandte von Schuldnern oft selber ihre Rechnungen nicht begleichen, daran wird es wohl liegen.“

Sven führt noch weitere Details aus, nämlich dass die Software auch das Alter als Merkmal berücksichtigt, weswegen Pensionäre ohnehin runtergestuft werden. Aber Herbert hört kaum mehr hin. Sven bietet an, einfach händisch das Flag aus der Datenbank zu nehmen; schließlich kennt er Herbert und hat auch nebenbei schon nachgeschaut, dass er bis dahin immer seine Rechnungen bezahlt hat. „Nein“, sagt Herbert, „das ist nicht notwendig. Ich werde nicht mehr bei einem Laden einkaufen, der Sippenhaft einführt. Aber danke für Deine Mühen, jetzt verstehe ich wenigstens, was passiert ist.“

Fragen:

  1. Wie ist eine Profiling-Software generell ethisch einzuschätzen?
  2. Sollte eine Firma mitteilen, bevor sie eine Bestellung entgegennimmt, ob sie überhaupt die Bestellung so durchführen wird? Müsste die Firma für Kunden, die auf Grund eines internen Systems nicht auf Rechnung bestellen können, Kauf auf Vorkasse anbieten?
  3. Sollte die Firma bei der Stornierung des Kaufes wenigstens den Kunden informieren?
  4. Ist es legitim, wenn eine Firma versucht ihre Rechnungsausfälle mit Hilfe solcher Profiling-Software zu minimieren? Ist die Nutzung einer solchen Software gar geboten?
  5. Hat Sven einfach so anbieten können, das „Problem-Flag” zu löschen?
  6. Darf Sven heimlich nachsehen, ob Herbert auch alle Rechnungen bezahlt hat, ohne vorher um Erlaubnis gefragt zu haben?
  7. Hat Sven einfach so erklären dürfen, wie das System funktioniert? Schließlich sind die Algorithmen vielleicht geheim. Ist Sven vielleicht moralisch verpflichtet, Herbert Auskunft zu geben – trotz möglicher Verletzung von Betriebsgeheimnissen? Welche Pflicht hat Sven seinem Arbeitgeber gegenüber?
  8. Steht Sven in einer Handlungspflicht, nachdem er Kenntnis erlangt, dass die Profiling-Software nicht korrekt arbeitet? Wenn ja, welche?
  9. Ist es seriös, das Zahlungsverhalten nicht über direkte bonitätsrelevante Kriterien, sondern über das Verhalten von Verwandten oder Mitbewohnern zu prognostizieren?
  10. Sollen Personen, die bei einer Firma nicht bezahlt haben, vom Online-Handel überhaupt ausgeschlossen werden?
  11. Es gibt zunehmend Produkte, die  per Online Handel schneller, günstiger, oder überhaupt erst erhältlich sind. Ist es ein ethisches Problem, wenn Personen auf Grund solcher Systeme vom Erwerb solcher Produkte gänzlich ausgeschlossen werden? Gibt es ein Recht auf die Möglichkeit, bestimmte Angebote im Markt wahrnehmen zu können?
  12. Ist es eine ethische Frage, wenn ein Versandhändler hinter dem Rücken seiner Kunden eine Profiling-Software betreibt?
  13. Soll eine Firma nach außen oder zumindest gegenüber dem konkreten Kunden darstellen, wie sie zu bestimmten Ergebnisse kommt?
  14. Wie kann man sich gegen Profiling wehren?

Erschienen in Informatik Spektrum 37(3), 2014, S. 259–261

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