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Fallbeispiel: Pseudokonferenz?

Marco promoviert in Informatik an einer Universität, die unter einer immer knapper werdenden Finanzierung leidet. Die Reisemittel wurden stark gekürzt und eine Reise wird nicht bewilligt, wenn kein wissenschaftlicher Artikel für das Tagungsprogramm akzeptiert wurde. Doktoranden im Fachbereich Informatik können erst, wenn sie drei Veröffentlichungen an Tagungen oder in Zeitschriften vorweisen können, ihre Dissertation einreichen.

Marco arbeitet am Institut von Prof. Birkenmoss, der als äußerst anspruchsvoll gilt. Er erwartet, dass seine Doktoranden geplante Artikel erst in einem Lehrstuhlkolloquium vorstellen, bevor sie diese einreichen. Marco hat dies vor einigen Monaten bereits getan, aber im Kolloquium wurden so viele Änderungswünsche genannt, dass er das Paper nicht mehr zum Abgabetermin fertig stellen konnte. Da Marcos Themengebiet nur für wenige Konferenzen und Journals interessant ist, fühlt er sich ziemlich stark unter Druck.

Eines Morgens findet Marco eine interessante E-Mail in seinem Postfach. Der 5-tägige »World Science International Multi-Conference on Computing Systems« (WSIMCCS) wird Ende des Jahres in Orlando, Florida stattfinden. Die thematische Spektrum der Konferenz ist sehr breit, so dass er sein Spezialthema unterbringen könnte.

Allerdings sind die Fahrtkosten nach Orlando und die Übernachtungen im Tagungshotel nicht gerade billig. Und dann ist die Tagung selbst sehr teuer. Wenn man die halbe Tagungsgebühr dazu zahlt, könnte man sogar einen zweiten Aufsatz präsentieren. Auf der Konferenzwebseite wird eine hohe Akzeptanzrate erwähnt, „um den breiten wissenschaftlichen Dialog zu fördern.“ Das hört sich gut an. Aber Marco fühlt sich auch etwas unsicher. Ist es wirklich eine gute Idee, auf dieser Konferenz, von der er noch nie gehört hat, zu publizieren? Oder vielleicht gar einen zweiten Artikel einzureichen? Dann erinnert sich Marco, dass ihm ein Kollege erzählt hat, dass Tagungsbeiträge in der Informatik eigentlich wichtiger seien als Journalartikel. Und immerhin handelt es sich um eine internationale Tagung.

Marco beschließt, einen Artikel einzureichen, und ist sehr glücklich (und etwas verwundert), als er nur ein paar Wochen später die Nachricht bekommt, dass sein Paper wie eingereicht angenommen wurde! Er musst nur noch die Tagungsgebühren zahlen und die Reise buchen. Für den Reiseantrag braucht er aber die Unterschrift von seines Chefs. Nun muß er beichten, dass er einen Aufsatz eingereicht hat, ohne diesen im Kolloquium vorher vorzustellen. Aber was sollte Prof. Birkenmoss eigentlich dagegen haben – es gibt ja die Freiheit von Forschung und Lehre. Prof. Birkenmoss ist jedoch sehr verärgert über Marcos Vorgehen. So viel Geld für Reisekosten zu einer Tagung, von der er noch nie etwas gehört hat. Und er hat den Aufsatz auch nicht gesehen. Marcos legt überzeugend dar, dass er unbedingt publizieren muss, wenn er seine Dissertation in einem kommenden Jahr einreichen möchte, und dass er wenige Möglichkeiten hat, sein spezielles Thema zu platzieren. Nach einer Weile gibt Prof. Birkenmoss nach und unterschreibt den Reiseantrag. Marco ist überglücklich und stürzt sich gleich in die Planungen. Er möchte zwei Wochen länger bleiben und ein bisschen herumreisen. Als er einige Wochen später im Tagungshotel in Orlando ankommt, ist er etwas enttäuscht. Es gibt in der Eingangshalle nur zwei kleine Plakate, die auf die Konferenz hinweisen.

Am nächsten Morgen stehen viele Leute am Registration Desk, aber nicht so vielem wie er erwartet hat. Er bekommt seine Unterlagen, der Tagungsband wird als CD ausgegeben.  Marco studiert das Programm, um zu sehen, wann er seinen Vortrag hat. Er wundert sich sehr, als er sieht, dass aus den fünf Tagen Konferenz inzwischen nur noch zwei Tage geworden sind. Drei Tage sind für Exkursionen u.a. zu Disney World oder zu den Everglades reserviert. Die Plenarsession ist recht gut besucht und es werden sehr viele Fotos gemacht. Die Sessions, die er danach besucht, sind leider fast leer. Seine Session selbst findet am nächsten Morgen um 9.00 statt. Bis auf drei Zuhörer ist niemand da, auch nicht der Session Chair. Marco ist enttäuscht. Er hat seinen Vortrag mit viel Mühe vorbereitet, und es kommt nicht eine einzige Frage. Da der nächste Vortragende gar nicht erst erscheint, löst sich die kleine Gruppe auf und geht Richtung Kaffeetisch. Marco packt seine Sachen und geht nachdenklich erst mal Richtung Pool.

Fragen

  • Durfte Marco seinen Aufsatz einreichen, ohne ihn dem Kolloquium vorzustellen?  Ist es sinnvoll, dass Prof. Birkenmoss eine solche Vorstellung fordert?
  • Hat sich Prof. Birkenmoss zu leicht von Marco überzeugen lassen?
  • Werden Forschende und Doktoranden benachteiligt, wenn sie in Spezialgebieten forschen und die gleiche Anzahl Veröffentlichungen von ihnen verlangt werden?
  • Hätte Marco auf der Tagung irgendwas sagen können? Hätte er sich beschweren müssen?
  • Wie kann man die Qualität einer Tagung messen? Gibt es Anzeichen für nicht ernstzunehmende Tagungen, die man im Vorhinein bemerken kann?
  • Auch auf guten Konferenzen kommt es immer wieder vor, dass Personen zwar einen Artikel einreichen und sich registrieren, aber nicht kommen und keinen Vortrag halten. Wie sollen die Tagungsorganisatoren und die Community damit umgehen?
  • Ist es ein Problem, dass Marco den Tagungsbesuch mit einem Urlaub verbindet?

1 comment to Fallbeispiel: Pseudokonferenz?

  • Komisch, auf genau so einer „Konferenz“ war ich auch einmal – „meine erste“ und fast auch die letzte!
    Eine Kritik daran würde vermutlich überhaupt nichts bringen. In den CACM gab es vor einigen Jahren einen guten Artikel dazu, dass ab einer gewissen Größe die Entscheidung für Qualität (und entsprechend Absagen) oder Geld (und entsprechend vielen Zusagen) getroffen werden muß.
    Ein Indiz – ein kleines, aber immerhin – sind de Rankings und Annahmequoten der Konferenzen, die je nach Thema natürlich auch variieren. Bei einer Annahme ohne Bewertungen und ohne Kommentare oder Begründung schrillen bei mir ebenfalls Akarmglocken…

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