Archiv

Fallbeispiel: Abgehängt?

Christina B. Class, Stefan Ullrich, Carsten Trinitis

Nadia und Heinz sind seit der zwölften Klasse zusammen und, wie ihre Freunde manchmal neidvoll sagen, ein echtes Traumpaar. Sie haben zwei Söhne, 14 und 9 Jahre und leben in einer größeren Stadt in einer Dreizimmerwohnung. Nadia hat Kunstgeschichte studiert und in diesem Fach auch promoviert. Leider hatte sie nach einem achtmonatigen Praktikum in einem Museum keine Anstellung in ihrem Bereich gefunden und arbeitet nun zu 80 % in einem lokalen Supermarkt zum Mindestlohn. Heinz hat Journalistik studiert. Auch er hat leider keine Festanstellung gefunden und arbeitet Teilzeit als Paketzusteller. Sofern möglich, arbeitet er noch als freischaffender Journalist für die lokale Tageszeitung. Aber die Aufträge sind eher selten und nicht gut bezahlt. Die Arbeitsmarktlage in ihrer Gegend bietet keine großen Alternativen, zumindest nicht ohne die passende Ausbildung. Sie kommen mehr oder weniger zurecht, aber es ist nicht einfacher geworden. Die beiden Söhne haben zwar das größere der beiden Schlafzimmer bekommen, aber Nadia und Heinz würden ihren Kindern gerne eigene Zimmer geben, immerhin ist der Große ja ein Teenager. Nach zwei Jahren intensiver Wohnungssuche und angesichts der steigenden Mietpreise auch für ihre Wohnung, haben sie es aufgegeben, eine neue Wohnung zu finden. Zum Glück haben sie einen kleinen Balkon, das war während der diversen Quarantänen aufgrund von COVID-19-Kontakten ein richtiger Luxus.

Die Familie nutzt gemeinsam einen Rechner, den Heinz auch für seine Artikel benötigt. Als die Schule während der Pandemie auf Onlineunterricht wechselte, bot die Schule den Eltern zum Glück an, Tablets auf Kredit zu beschaffen. Es fiel Nadia schwer, darum zu bitten, und es war nicht einfach, die Schulleitung von ihrer Bedürftigkeit zu überzeugen. Sie war damals so stolz auf die Promotion gewesen, dass sie den Doktorgrad in ihre Papiere eintragen ließ. Und Heinz hat in den letzten Jahren immer wieder Artikel über die Schulpolitik des Kreises und des Landes geschrieben. Eine „Frau Doktor“ und ein bekannter Journalist können keine Tablets für die Söhne kaufen. Das war ein Spießrutenlauf. Zum Glück waren sie erfolgreich – die Raten von insgesamt 50 € pro Monat sind zwar auch nicht zu vernachlässigen, aber immerhin konnten beide Jungs am Onlineunterricht teilnehmen.

Nadia graut auch schon wieder vor dem nächsten Schuljahr. Die Schulbücher liegen fast alle in neuen Auflagen vor, sodass sie für beide Jungs Bücher kaufen müssen. Von wegen Lernmittelfreiheit!

Alle vier haben Smartphones, wobei das von Nadia schon recht alt ist, und viele Anwendungen nicht mehr laufen. Aber für sie reicht es. Der jüngere Sohn hat das alte Smartphone von seinem Vater bekommen, er war zwar nicht begeistert, aber hat sich damit arrangiert. Aber sie will sich nicht beklagen, sie sind alle gesund und abgesehen von den Finanzen eine glückliche Familie.

Am heutigen Abend wollen sie nicht darüber nachdenken. Heute treffen sie sich zur zwanzigjährigen Abiturfeier in einem Restaurant, und das wollen sie einfach genießen. Manche haben sie seit zehn Jahren nicht gesehen. Wie es ihnen wohl ergangen ist? Nach und nach treffen alle ein. Nachdem sie sich bei einem Plausch auf der Terrasse in kleinen Gruppen begrüßt haben, setzen sie sich zum Essen an den Tisch. Es sind nur 20 Personen gekommen, sodass sie alle an einer großen Tafel Platz nehmen. Nach dem Essen berichtet Andreas stolz von seinem letzten Projekt: Er hat sich mit einem Softwareunternehmen selbstständig gemacht und eine neue App für den lokalen Verkehrsverbund geschrieben. Nutzt man diese, erhält man immer den besten Preis für Fahrten. Nach und nach sollen bis auf an zentralen Haltestellen die Fahrkartenautomaten abgeschafft werden. Für den Notfall gäbe es beim Fahrer dann noch Einzelkarten. Aber die am Automaten erhältliche Mehrfahrtenkarte benötige ja wirklich niemand, die könne man zur Not an der Servicestelle besorgen, zumal man bei der App einen um 10 % besseren Preis erhalten würde. Ganz besonders stolz berichtet er von der Zusammenarbeit mit einem Senioren- und Behindertenverein. Die App sei soweit als möglich barrierefrei und würde hierfür die neueste Technologie verwenden. Auf Nachfrage schwärmt er von den Möglichkeiten der neuesten Generation der gängigen Betriebssysteme.

In einer Pause wendet Nadia ein, dass sich aber nicht jeder die neuesten Smartphones leisten könne. Was ist mit denen? Da lacht Andreas auf und meint: „Ach, die Hartz-4-Empfänger sollen sich nicht so anstellen! Die können ja wohl zur Servicestelle gehen, die haben ja eh Zeit. Außerdem müssen sie ja nicht so oft mit dem Bus fahren.“ Nadia muss schlucken, Heinz neben ihr jedoch wirft vor lauter Ärger sein Bier um und fährt Andreas an. Was er sich denn einbilde, Armut beträfe auch viele Leute, die arbeiten. Sie zum Beispiel wüssten trotz erfolgreichem Studium und Arbeit oft nicht, wie sie unvorhergesehene Kosten stemmen sollten. Und nein, sie könnten sich garantiert keine solch tollen Smartphones leisten. Sie würden immer mehr ausgeschlossen, mit jeder groß angekündigten Neuheit sei es für sie schwerer, mithalten zu können.

Am Tisch herrscht betretenes Schweigen, dass Heinz laut wird, ist man nicht gewöhnt. Leise meldet sich Maria: „Seit mein Mann mich vor drei Jahren mit der Kleinen sitzen gelassen hat, weiß ich oft auch nicht, wo das Geld für das Nötigste herkommen soll. Ich habe seit zwei Monaten jeden Cent zur Seite gelegt, um heute hier dabei sein zu können. Und seit mein Smartphone vor vier Monaten kaputt gegangen ist, nutze ich wieder mein altes Handy, um wenigstens erreichbar zu sein.“

Fragen

  1. Armut ist ein gesellschaftliches Problem. Armutsbetroffene sind von vielen Bereichen ausgeschlossen und haben nur eingeschränkte Möglichkeiten der Teilhabe, insbesondere auch bei der Freizeitgestaltung. Ist das ein ethisches Problem?
  2. Finanzielle Möglichkeiten entscheiden, ob sich jemand Hardware, Internetzugang und/oder Softwarelizenzen leisten kann. Welche konkreten Folgen hat diese Trennung zwischen denen mit und denen ohne Zugang? Ist das ein ethisches Problem?
  3. Je nach Region in Deutschland sind Menschen von einem akzeptablen Internetzugang abgeschnitten, da weder der Ausbau des Mobilfunks noch des Glasfasernetzes ausreichend erfolgt ist. Was ist der Unterschied zwischen Menschen, die aufgrund des Wohnorts und solchen, die aufgrund eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten abgeschnitten sind? Gibt es einen Unterschied?
  4. Welche Verantwortung hat eine Gesellschaft, Menschen aufgrund mangelnder finanzieller Möglichkeiten nicht von digitalen Dienstleistungen abzuschneiden? Welche Dienstleistungen sind relevant?
  5. Verwaltungen setzen zunehmend auf Onlinedienste, um z. B. bestimmte Dokumente zu beantragen oder Termine auszumachen. Welche alternativen Zugangsmöglichkeiten sind aus Ihrer Sicht ethisch geboten?
  6. Es gab aus unterschiedlichen Gründen auch bisher schon Unterschiede bei den Möglichkeiten und dem Zugang, z. B. Behinderung oder Alphabetisierungsgrad, sowie unterschiedliche Möglichkeiten zwischen Stadt und Land. Handelt es sich bei den Unterschieden in der digitalen Teilhabe einfach um eine andere Dimension? Wiegen diese Unterschiede stärker? Sind sie aus ethischer Sicht anders zu bewerten?
  7. Wie sollen diese Themen in der Informatik-Ausbildung und -Lehre angesprochen werden? Wie kann dafür sensibilisiert werden?
  8. Wie können Fragen der digitalen Teilhabe armutsbetroffener Menschen in der Softwareentwicklung beachtet werden? Für welche Art von Projekten ist das erforderlich?
  9. Müssten soziale Kosten ebenfalls Bestandteil der Softwareentwicklung sein?
  10. Gehört das Thema Armut aus Ihrer Sicht zum Bereich Inklusion?
  11. Welche Rolle spielen informationstechnische Systeme für die Beteiligung am öffentlichen/gesellschaftlichen Leben?
  12. Ist es aus technischer Sicht unbedingt notwendig, die neueste Version von Apps so zu gestalten, dass sie nur auf der neuesten Hardware mit dem neuesten Modell läuft? Würde hier nicht schon etwas Abwärtskompatibilität helfen?
  13. Ein Gedanke zum Schluss: Wieder einmal kam vieles anderes dazwischen und es war, trotz anderer Planung, am Schluss doch wenig Zeit, um diese „Gewissensbits“ zu schreiben. So blieben wir bei unserem gewohnten Vorgehen, der Erstellung einer ersten Version durch das Autorenteam und Versand an die Liste der aktiven Fachgruppenmitglieder für Feedback. Wir wollten beim ursprünglichen Thema bleiben, und auf die Schwierigkeiten hinweisen, die Armutsbetroffene haben, wenn sie sich keinen adäquaten Zugang zur Technologie leisten können. Aber aus Zeitgründen haben wir hierbei keine Betroffenen eingebunden. Dies passiert oft, zu oft, nicht nur bei dieser Kolumne. Ist das ein ethisches Problem? Rechtfertigt unsere gute Absicht die Tatsache, dass wir auch hier „über“ statt mit Personen sprechen? Was müssen wir tun, um dies in Zukunft zu vermeiden? Wie können wir Betroffene in unsere Gedanken, Diskussionen und Tun besser einbinden?

Zum Weiterlesen

Ein Positionspapier der Diakonie Deutschland zu „Digitalisierung und Armut“ vom 05.01.2021.

https://www.diakonie.de/fileadmin/user_upload/Diakonie/PDFs/Stellungnahmen_PDF/21-1-5_Digitalisierung_und_Armut_Thesen_Diakonie_CD.pdf

Erschienen im Informatik Spektrum 45 (3), 2022, S. 194–196, doi: https://doi.org/10.1007/s00287-022-01460-5

1 comment to Fallbeispiel: Abgehängt?

Leave a Reply

You can use these HTML tags

<a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>