Christine Hennig
Carola bekommt die Projektleitung für ein Software-Entwicklungs-Projekt übertragen, ihr erstes Projekt mit einem eigenem Team. Sie darf vom Kern-Team der Firma ein paar Leute übernehmen, verstärkt für ein Jahr durch weitere Programmierer von einer Leiharbeitsfirma. Carola darf sich sogar die neuen Kollegen selbst aussuchen.
Ihr Team arbeitet nach den Vorgaben des Projektmanagement-Frameworks SCRUM mit vierwöchigen Sprints zur Arbeitsplanung und täglichen Stand-Up-Meetings über die Fortschritte der Arbeit. Am Ende jedes Sprints erfolgt eine Kundenpräsentation.
Die Zusammenarbeit mit den Leih-Arbeitnehmern erweist sich allerdings als schwierig. Die Einarbeitung geht nur langsam voran, und zu allem Überfluss springen in den ersten Monaten mehrere Leih-Arbeitnehmer ab.
Micha ist fünf Monate im Team, als Dirk dazu stößt. Dirks Lebenslauf ist vielversprechend: Nach seinem Studium hat er Erfahrungen bei einer Großforschungseinrichtung, einer Frankfurter Bank, einem großen deutschen Automobilkonzern und sogar Auslandserfahrungen in der Schweiz sammeln können. Außerdem ist er sehr freundlich, umgänglich und durch seine Berufserfahrung erfreulich breit aufgestellt.
Zunächst jedoch ist Dirk durch eine Erkrankung wenig anwesend. Wenn er in der Firma ist, liegen Berge von Medikamenten auf seinem Schreibtisch. Mit seinem oft schmerzverzogenen, bleichen Gesicht sieht er auch nicht gesund aus. Entsprechend verzögert sich seine Einarbeitung. Krankschreiben lassen will er sich nicht, aus Angst vor Entlassung. Dirks Verleiher bietet Carola an, im Notfall eine Ersatzperson zu stellen, aber dann begänne die Einarbeitung erneut.
Ihr Abteilungsleiter zitiert Carola zu sich: „Deine Jungs sind teuer. Jeden Monat zeichne ich die Rechnungen ab. Sieh zu, dass sie Leistung bringen.“ Da die Leiharbeitnehmer teurer sind als interne Mitarbeiter, erwartet der Abteilungsleiter von ihnen eine höhere Leistung.
Carola fühlt sich zunehmend unter Druck. Sie ist überzeugt, dass ihr Team nur gute Leistungen erbringen kann, wenn alle gut zusammenarbeiten. Außerdem hat sie keine besseren Leiharbeitnehmer bekommen können und möchte gern mit den vorhandenen Leuten die maximale Leistung erreichen. Da im SCRUM die Teamleistung zählt, geben sich alle Mühe, die gesteckten Ziele der Sprints trotz Dirks Fehlzeiten zu erreichen. Alle sind sehr hilfsbereit, besonders Micha, der gerade erst seine eigene Einarbeitung hinter sich hat und die Probleme gut aus eigener Erfahrung kennt.
Carola schwankt in ihren Einschätzungen von Dirks Arbeitsleistung. Bei den täglichen Meetings gelingt es Dirk trotz eher geringer Arbeitsergebnisse immer wieder, bei Carola einen guten Eindruck zu hinterlassen. Trotzdem kommen ihr auch immer wieder Zweifel, die Dirk aber zerstreuen kann. Sie beschließt, nochmals alle Anstrengungen auf Dirks Einarbeitung zu fokussieren, der mittlerweile endlich gesund ist. Gleichzeitig versucht sie, weitere Mittel für eine Verlängerung der Leiharbeitnehmer aufzutreiben, um die Verzögerung auszugleichen.
Um die Motivation im Team zu erhöhen, kommuniziert sie die geplante Verlängerung für Dirk und Micha frühzeitig. Eine Weile scheint dies auch Wirkung zu zeigen. Dirks Ergebnisse werden langsam besser. Oder irrt sich Carola? Um Dirk seinen Stärken gemäß einzusetzen, lässt sie ihn sich die Aufgaben selbst aussuchen.
Vier Wochen später, Dirk ist mittlerweile sechs Monate in der Firma, steht das nächste Meeting an. Es stellt sich heraus, dass Dirk in vier Wochen gerade einmal einen Unit Test programmiert hat, der noch nicht mal im Source Code Repository eingecheckt ist. Carola ist entsetzt und sagt dies im Stand-Up auch.
Nach dem Meeting kommt Dirk in ihr Büro. Er berichtet von psychischen Problemen, die ihn nach der schmerzhaften Erkrankung und durch das jahrelange Fernpendeln als Leiharbeitnehmer aus der Bahn geworfen haben. Er versichert Carola, dass er wie aus einer Trance aufgewacht wäre und ab sofort besser arbeiten würde.
Carola verbringt ein hartes Wochenende. Dirk ist ein netter Junge, er tut ihr leid. Aber dass er in absehbarer Zeit noch ausreichend produktiv wird, sieht sie nicht. Wenn er bleibt, wirft sie das Projektgeld weiter zum Fenster raus. Wenn er gehen muss, erlaubt ihr Projektplan nicht mehr, eine Ersatzperson einzuarbeiten; damit zerfällt auch ihr eigenes Team. Außerdem ist die Verlängerung bereits von der Firmenleitung bewilligt, das Geld aus verschiedenen Töpfen zusammengesucht, der Verleih-Firma kommuniziert, und die Verwaltungsprozesse sind im vollen Gange. Wie steht Carola nun da?
Schweren Herzens geht sie zu ihrem Abteilungsleiter und informiert ihn über ihre Fehleinschätzung bezüglich Dirks Arbeitsleistung und sein Leistungspotential. Der Abteilungsleiter ist alles andere als erfreut. Er setzt Carola unter Druck: Sie muss sich sofort entscheiden, ob Dirk gehen muss oder noch mindestens drei Monate bleibt. Carola will jedoch keine weiteren drei Monate abwarten.
Der Verleiher schlägt ein gemeinsames Projekt-Abschlussgespräch vor. Dirk bittet Carola vorab, seine psychischen Probleme nicht zu erwähnen und überhaupt nur die positiven Seiten zu erwähnen. Gern willigt Carola ein, sie will ja Dirk keine Steine in den Weg legen. In der Vorbereitung versucht sie eine Liste mit seinen positiven Aspekten zu sammeln. Fassungslos stellt sie fest, dass sie bezüglich seiner Arbeit nichts finden kann, so sehr sie auch nachdenkt. Langsam wird Carola klar, dass sie einem Blender aufgesessen ist. Ist er gar ein Hochstapler? Der Gedanke lässt ihr keine Ruhe.
Micha kommt in Carolas Büro. Auch Micha hat beim Versuch, Dirks Arbeit zu übernehmen, festgestellt, dass da nichts zu übernehmen ist. Carola fühlt sich in ihrem Verdacht bestätigt. Dirk versucht in seinen letzten Tagen mit Hochdruck, einen guten Eindruck bei Carola zu hinterlassen. Anscheinend hat er Angst, Carola könnte doch noch Negatives seinem Verleiher gegenüber erwähnen. Langsam beginnt Carola das System zu durchschauen, mit dem Dirk den guten Eindruck erwecken konnte. Sie fühlt sich jetzt manipuliert und getäuscht.
Auch Micha kommt noch einmal zu Carola ins Büro und entschuldigt sich, dass er von sich aus nichts gesagt hatte. Er wollte Dirk nicht ohne ihn zu informieren anschwärzen. Er hatte sich aber auch nicht getraut, Dirk direkt darauf anzusprechen aus Angst, dass Dirk dann ihm geschadet hätte.
Fragen
- Hätte Micha früher zu Carola gehen müssen?
- Hätte Michas Ruf darunter gelitten?
- Hätte Carola Dirk noch eine Chance geben müssen, als ihr zum ersten Mal klar wurde, dass seine Leistungen nicht ausreichen? Darf oder soll sie zu diesem Zeitpunkt den Kollegen von der fehlenden Leistung von Dirk berichten? Wären damit persönlichkeitsrechtliche Probleme verbunden?
- Darf Carolas Abteilungsleiter von Micha und Dirk mehr Leistung als vom internen Personal fordern, weil sie mehr Kosten verursachen?
- Ist die Firmenpolitik, Leiharbeitnehmer für solche Aufgaben einzustellen, vertretbar?
- Wie kann Carola bei zukünftigen Einstellungen potentielle Blender schon im Gespräch erkennen? Soll sie Kontakt zu vorherigen Firmen aufnehmen? Ab wann ist ein Arbeitnehmer eigentlich als Blender zu betrachten? Was, wenn Carola nur irrig annimmt, Dirk sei ein Blender und er in Wahrheit vor und nach einer Schwächephase ein ausgezeichneter Programmierer ist?
- Muss Carola erneut das Gespräch mit der Verleih-Firma suchen und ihren Hochstapler-Verdacht der Verleih-Firma gegenüber äußern? Besteht für sie nicht sogar die Pflicht, das Wissen weiterzugeben?
- Wie ist die Teamleistung des SCRUM-Teams zu bewerten, wenn ein Teammitglied derart schwächelt? Wäre es auch problematisch, wenn durch die höhere Leistung der anderen Teammitglieder die Ziele erreicht worden wären?
- Wie viel (vorübergehende) Minderleistung muss das Team SCRUM auffangen?
- Hat Carola aus Eigennutz zu lange gezögert, Dirk zu entlassen?
- Hätte Carola Dirk sofort kündigen sollen, als er mehrere Wochen krank war, wie es die Verleih-Firma vorgeschlagen hatte?
- Kann die Verleih-Firma von Dirks Hochstapelei gewusst haben? Ist es angesichts des zu vermutenden Missbrauchs ethisch vertretbar, wenn jemand weiterhin über so eine Vermittlung verliehen wird?
- Darf sie ihren Mitarbeiter erneut verleihen, auch wenn mehrere Projekte gescheitert sind? Bisher hat er immer gut Geld für sie eingefahren.
- Ist es für Micha ein Wettbewerbsnachteil, wenn er offen und ehrlich kommuniziert, welche Tätigkeiten er kann, welche er nicht kann und für welche er Einarbeitungszeit benötigt?
- Wie soll Micha sich künftig verhalten, wenn ein Konkurrent Vorgesetzte und Kollegen täuscht?
- Wie ist Dirks Verhalten moralisch zu beurteilen?
- Was ändert sich an der Bewertung der Situation, wenn es sich komplett um internes Personal handelt?
Erschienen in Informatik Spektrum 37(4), 2014, S. 371–373
[…] 2014 – Fallbeispiel: Blender, C. […]