Steven Strehl & Stefan Ullrich
Sertaç arbeitet als studentische Hilfskraft in dem kleinen inhabergeführten Unternehmen MediHaus, das rezeptfreie Arzneimittel vertreibt. Das Unternehmen hat sich auf die kurzfristige Lieferung von Medikamenten per Fahrradkurier spezialisiert. Der Dienst wird vor allem am Abend und am Wochenende stark genutzt. Seine Chefin lotet derzeit die Möglichkeit aus, zusätzlich verschreibungspflichtige Medikamente zustellen zu können. Dabei soll mit Firmen kooperiert werden, die »virtuelle Sprechstunden« anbieten, um auch an Wochenenden, wenn die meisten Hausarztpraxen geschlossen sind, Rezepte ausstellen lassen zu können und die Medikamente noch am selben Tag mit einem hohen Aufschlag zu liefern.
MediHaus teilt sich ein Großraumbüro mit dem Investoren-finanzierten Start-Up DocTermin, das Arzttermine über ein Online-Formular vermittelt. So wird die Arbeit der Sprechstundenhilfen in den Praxen erleichtert und Patienten können sich selbst einen freien Termin suchen. Ein weiteres Verkaufsargument ist, dass Sprechstunden gleichmäßiger ausgelastet werden können als über den telefonischen Weg. Martina kümmert sich als Teamleiterin um das fünfköpfige Support-Team. Hier rufen vor allem Menschen an, die Ihren Arzttermin absagen möchten, weil das online nicht möglich ist. Ihre Kernaufgabe ist jedoch die telefonische Betreuung der praktizierenden Ärzte und Sprechstundenhilfen, also der Kunden und deren Beratung.
Beide Firmen vereinbarten jüngst eine Werbepartnerschaft und so bekommt MediHaus tatsächlich von DocTermin ein paar Patienten vermittelt, die sich entschieden haben, über solche Dienste informiert zu werden. Auch informell kooperieren beide Firmen: Martina und Sertaç trinken häufig zusammen Kaffee im Innenhof des Bürokomplexes, der früher eine Fabrik war. Durch die Kooperationsvereinbarung bekommen die beiden Mitarbeiter viel von der Arbeit des anderen mit, zudem liegen ihre Arbeitsplätze im Großraumbüro direkt gegenüber. Sertaç trägt in der Regel Kopfhörer und hört Musik, um nicht durch Martinas Telefonate von der Arbeit abgelenkt zu werden.
Eines Abends, eigentlich schon längst im Feierabend, hört Sertaç durch Zufall aber doch ein Telefonat mit. Er hatte die Musik schon ausgemacht, die Kopfhörer aber noch nicht abgesetzt. Martina scheint in einem Gespräch mit einem Facharzt zu sein, der von den Vorteilen der Software nicht vollständig überzeugt zu sein scheint. Dann kommt ein Gesprächsfetzen, der Sertaç verwundert: »Wir haben natürlich auch die Möglichkeit, unseren Premiumkunden exklusive Termine anzubieten, die zeitnah sind. Sie können auch bestimmte Tage für Kassenpatienten blocken. Diese werden dann als interne Weiterbildungstage angezeigt oder einfach, als gäbe es keinen freien Termin mehr. Je mehr Premiumkunden Ihre Praxis hat, desto niedriger fällt Ihre monatliche Lizenzgebühr aus. Darüber hinaus speichern wir, welche Patienten oft kurzfristig Termine absagen und so Probleme verursachen.« Premiumkunden sind solche, die einwilligen, dass Ihre Daten auch zu anderen als den angegebenen Zwecken verwendet werden dürfen. Den Vorwurf, dass Ärzte privat versicherte Menschen nicht so lange warten lassen wie Kassenpatienten, kennt Sertaç schon. Aber dass die Patientenliste, die MediHaus von DocTermin bekommt, so zustandegekommen ist, findet er erschreckend. Gleichzeitig kommt er sich blauäugig vor, da es ja nahe liegt, alle Informationen, die über Patienten gespeichert werden, auch gewinnbringend zu nutzen.
So richtig mag er aber nicht glauben, was er sich aus dem mitgehörten Gespräch zusammengereimt hat. Für ihn steht demnächst ein Besuch beim Orthopäden an. Den Termin hatte er über DocTermin gebucht. Wartezeit: fast sieben Wochen. Aus Neugier legt er sich einen neuen Account bei DocTermin unter einem anderen Namen und mit einer anderen E-Mail-Adresse an und gibt vor, privat versichert sowie »interessiert an besonderen Gesundheitsangeboten unserer Partner« zu sein. Dann sucht er seine Orthopädin im Verzeichnis heraus und versucht, einen Termin zu buchen. Was er in der Auswahlmaske sieht, ist unglaublich: in der nächsten Woche sind noch drei Termine frei. Ihm fällt es schwer zu glauben, dass diese Termin kurzfristig frei geworden sind. Irritiert bucht er einen der Termin und erhält Sekunden später eine Bestätigungsmail in seinem elektronischen Postfach. Ist es wirklich so, dass diese Praktiken im Büro schon immer Usus waren und er nichts davon mitbekommen hat?
Zu allem Überfluss sieht Sertaç, dass die Software auch noch schlampig programmiert wurde: Als er sich wieder mit den Login-Daten seines eigentlichen Accounts einwählt, bleibt er Premiumkunde. Anstatt aus einer Datenbank wird diese Information ganz offensichtlich lediglich aus einem Browser-Cookie ausgelesen. Ein kurzer Blick in die Patientenliste, die MediHaus von DocTermin bekommt, verschafft ihm Gewissheit. Auch die E-Mail-Adresse, die er für seinen echten Account angegeben hatte, taucht nun auf, obwohl er für diesen die entsprechende Checkbox nicht angeklickt hatte. Da Martina immer noch telefoniert, beschließt er, sie am nächsten Tag darauf anzusprechen. Er nickt ihr zum Abschied zu, sie erwidert seinen Gruß.
Am nächsten Morgen fragt Sertaç Martina über ihre Meinung zu Premiumkunden und dem entdeckten Softwarefehler. Sie lächelt und sieht gleichzeitig unzufrieden aus, als sie ihm erzählt, dass es diesen Service seit dem letzten Treffen mit den Investoren gibt. Sie trinkt ihren Becher leer: »Und außerdem machen wir ja nichts, was nicht eh schon Praxis ist. Den Bug kann man ja schnell fixen. Übrigens hast du gegen unsere AGB verstoßen! Man muss sich mit dem Namen anmelden, auf den man bei der Krankenkasse versichert ist. Wir zeigen eigentlich Leute an, die wir bei solchen Dingen ertappen. Betrug und so…« Dann geht sie zurück an den Arbeitsplatz.
Fragen
- Inwiefern hat MediHaus moralische Verpflichtungen, wenn sie Patientenlisten von Partnern kauft?
- Sertaç blickt einfach so in die Patientenliste seines Arbeitgebers. Was hätten die Software-Entwickler machen sollen, um so etwas zu erschweren?
- Sertaç hat einen Softwarefehler entdeckt, hat dafür aber gegen die Allgemeinen Nutzungsbedingungen verstoßen. Wie ordnen Sie das moralisch ein?
- Stellt es ein moralisches Problem dar, dass die Lizenzgebühr von der Anzahl der Premiumpatienten abhängt? Welche Verpflichtung haben die teilnehmenden Arztpraxen?
- Verändert sich die moralische Bewertung, wenn DocTermin von nun an einen Teil des Gewinns an eine Organisation spendet, die sich für die medizinische Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherung einsetzt?
- Sollte Sertaç als Informatiker mit Gespür für Ungerechtigkeiten seine Beobachtungen zum Anlass nehmen, die Daten einer NGO oder Journalisten zuzuspielen?
- Soll Martina ihre Vorgesetzten informieren, dass ihr Geschäftsmodell von der Nachbarsfirma so kritisch gesehen wird?
- Wer würde die Verantwortung dafür tragen, wenn Sertaçs medizinischen Daten nach seinen Untersuchungen eventuell schon für andere Zwecke ausgewertet oder sogar an Dritte weitergegeben würden, ohne dass er dafür je sein Einverständnis gegeben hatte?
- Ist es aus IT-Sicht aufwändig, wenn Patienten ihre Termine kurzfristig absagen? Ist es anderweitig problematisch/schwierig?
- Sollten Softwarefirmen „interne“ Bewertungen wie „Premiumkunde“, oder „Kunde der oft Termine ändert“ für sich behalten dürfen?
Erschienen im Informatik Spektrum 39(4), 2016, S. 336–337
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