Debora Weber-Wulff, Wolfgang Coy
Chris sitzt in der Cafeteria. Sie hat bis spät in die Nacht über ihrer Hausarbeit gebrütet, an der sie seit Wochen saß. Sie musste viel Zeit in der Bibliothek verbringen und mit präzisen Formulierungen ringen, aber Prof. Laub legt Wert auf klare Aussagen. Die Arbeit scheint ihr nun ganz ordentlich. Chris ist mit sich zufrieden. Alle Hausarbeiten waren morgens um 9 Uhr im Sekretariat abzugeben; danach fand sich das ganze Semester in der Cafete ein.
Am Nebentisch sitzt Karsten aus ihrem Semester, der bei Partys gern Musik auflegt. Er trinkt einen Latte und unterhält den Tisch mit seinen Geschichten. So erzählt er, welches Glück er mit seinem Thema hatte, weil es dazu bereits zwei Aufsätze bei einer Hausarbeitsbörse im Internet gibt. Er hat sich eine dieser Arbeiten gekauft – sie war mit einer 1,0 benotet worden. Er formatierte sie neu, setzte seinen Namen darunter und gab sie am Morgen im Sekretariat ab. So war er gestern früh fertig und konnte die Nacht im Club durchfeiern – mit einer „heißen BWL-Tusse,“ die er dort kennengelernt hat. Chris ärgert sich, dieses dumme Getue anhören zu müssen. Am meisten aber ärgerte sie die Sache mit der abgeschriebenen Arbeit. Da sie aber nicht an dem Gespräch beteiligt ist, kann sie schlecht rübergehen und sagen, dass sie sein Verhalten mit der Hausarbeit nicht richtig findet.
Die Noten werden Anfang des nächsten Semesters halbanonym am Schwarzen Brett publiziert – statt Namen stehen dort Matrikelnummern. Im Semester wissen freilich alle, wer welche Nummer hat. Chris sucht ihre Nummer und freut sich: eine 2,0, ihre Arbeit hat sich gelohnt. Sie weiß auch Karstens Matrikelnummer, zögert aber einen Augenblick, seine Note nachzuschlagen. Aber sie kann es sich doch nicht verkneifen: Und siehe, Karsten hat eine 1,3.
Nun ist Chris wirklich wütend. Was soll sie machen? Zu Prof. Laub gehen? Karsten zur Rede stellen? Sich in der Fachschaft beraten lassen? Sie seufzt: Die Ehrliche ist immer die Dumme.
Fragen
In diesem Szenario werden verschiedene Fragestellungen aufgeworfen. Es berührt ethische Fragen ebenso wie rechtliche Aspekte des Urheberrechts, des Betrugs und des Datenschutzes. Trennen Sie diese Aspekte, soweit es möglich ist.
- Warum ist es ein Problem, dass Karsten eine fremde Arbeit als eigene eingereicht hat?
- Hat Prof. Laub eine ethische Verpflichtung, alle Arbeiten auf mögliche Plagiate zu überprüfen? Oder ist es ein Problem, wenn Prof. Laub stets nachprüft, ob ein Plagiat vorliegt – und so alle Studierenden unter Generalverdacht stellt?
- Wie soll sich Chris verhalten? Hat sie Handlungsspielraum? Hat sie Handlungspflicht?
- Chris hat das Gespräch von Karsten mit seinen Freunden belauscht. War das vertretbar? Sie hat auch seine schlecht anonymisierte Note nachgeschaut: War das zulässig?
- Durfte Prof. Laub überhaupt die Noten halbanonym aushängen? Sind Noten nicht Teil der Privatsphäre und müssen geschützt werden?
- Werden Plagiate in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen verschieden beurteilt?
- Kennen Sie Bereiche, in denen Plagiate akzeptiert werden?
Erschienen im Informatik Spektrum 33(1), 2010, S. 85
Es verletzt das Urherberrecht
Aber das Problem ist, dass nur die Urheberin etwas wegen Urheberrecht unternehmen kann. Plagiat ist viel mehr ein ethisches Problem: Man gibt an, Autor von einem Text zu sein, die von jemand anderem stammt. Dieser Text könnte sogar gemeinfrei sein, dann wäre es kein Urheberrechtsverletzung, aber trotzdem ein Plagiat!
Karsten verstieße als Wissenschaftler, wenn es keine
Urheberrechtsverletzung ist, gegen die Grundsätze guter
wissenschaftlicher Praxis; aber handelt er denn als
Wissenschaftler oder nur als Prüfling? Aus meiner Sicht ist es
Täuschung, wenn der Prüfling die selbständige Erarbeitung
zusichert (was aus dem Fall nicht zu erkennen ist). Täuschung
ist nach mancher Prüfungsordnung mit nicht ausreichend zu
bewerten. Dann stimmte hier die Bewertung nicht. Das ist ein
Fehler des Prüfers. Ich gehe aber davon aus, dass der Prüfer
von der Täuschung nichts wusste.
Außerdem verletzt die Hochschule das Grundrecht auf
informationelle Selbstbestimmung der Prüflinge. Matrikelnummern
sind nicht als Pseudonym geeignet, eine öffentliche Bekanntgabe
der Noten nicht erforderlich.
Chris ist nicht verpflichtet, den Prüfer über seinen Irrtum
aufzuklären. Aber sie darf es versuchen.
Es ist Chris nicht zuzumuten, den Raum zu verlassen, nur weil
sich laut unterhaltende Zeitgenossen ihre Gesprächsinhalte
möglicherweise für vertraulich halten.
Das Nachschauen der Note ist nicht ohne die rechtswidrige
Übermittlung möglich, wofür die übermittelnde Stelle
(Hochschule) verantwortlich ist. Es ist wohl auch nicht
zulässig, wenn sie die Note von Karsten gezielt nachsieht, denn
es ist keine ausschließlich persönliche oder familiäre
Tätigkeit.
Das Urheberrecht akzeptiert Plagiate in engen Schranken.
[…] der Gelegenheit legen wir nochmal unser Fallbeispiel über Betrug und Plagiat ans […]
[…] 2010 – Fallbeispiel: Plagiat und Datenschütz, W. Coy / D. […]