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Fallbeispiel: Blockchain-Disruption?

Wolfgang Coy,  Stefan Ullrich

Pia hat sich nach einem Studium der Mathematik für eine Promotion in der Informatik entschieden. Sie besucht sogar Vorlesungen in der praktischen Informatik, obwohl sie das nicht müsste; es interessiert sie aber ungemein, wie mathematische Formeln plötzlich in Software-Produkten eingesetzt werden. Ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen findet sie sehr sympathisch, allerdings scheinen sich viele nicht für die Theorie der Informatik zu interessieren, sondern nur, wie man möglichst effizient und zuverlässig ein gegebenes Problem löst. Pia hat sich rasch mit Alex angefreundet, inzwischen gehen sie regelmäßig zusammen in die Mensa und hängen im Arbeitsraum schweigend auf dem gleichen Sofa an ihren Rechnern ab. Alex hat seinen Master noch immer nicht geschrieben, weil ihn seine Startup-Firma SERVANDA komplett einnimmt, die er mit zwei BWL-Studenten, einer Designerin und einer Medieninformatikstudentin gegründet hat. Seit einigen Wochen kommt er gar nicht mehr in die Uni, Pia trifft ihn eines Abends eher zufällig. Sie begrüßen sich herzlich und gehen in das nahe gelegene Teehaus am alten Hafen.

Alex erzählt, dass er jetzt im FinTech-Sektor arbeitet. ,,Bitcoins? Kasino-Kapitalismus? Zahlst Du den Kaffee – oder muss ich schon einspringen? Ich kenn den heutigen Kurs nicht“ fragt Pia. ,,Nein, nein. Blockchain-Anwendungen. Total seriös. Und ich zahle, auch wenn wir noch keinen Umsatz machen. Unseren ersten richtig dicken Kooperationspartner haben wir schon.“ grinst Alex. ,,Aber Blockchain ist doch sowas von 2017“, frotzelt Pia, ,,damit lockt man doch keine weiteren Kunden mehr an.“ ,,Denkst du, es sind doch keine spekulierenden Privatkunden, sondern Firmen, die sich für Langzeitverträge interessieren.

Es geht um die Langlebigkeit von Verträgen, wenn sich die Umstände ändern. Brexit, Privatisierung, Verstaatlichung – unser Vertragssystem garantiert die Integrität noch in 100, 200 Jahren! Pacta sunt servanda!“ ,,Ich kann kein Französisch“, scherzt Pia, ,,aber von der Blockchain verstehe ich vielleicht einiges. Ich verstehe beispielsweise, dass wir noch gar keine Aussagen über ihre Integrität in zehn oder gar einhundert Jahren machen können.“ ,,Wir“, unterbricht sie Alex, ,,haben demnächst sogar ein erstes consumer-Produkt. Eine App, mit der man digitale Tagebücher in der Cloud abspeichern kann – total sicher mit einem Passwort und für beliebig lange Zeit. In unserer Blockchain. DiaryChain soll sie heißen. Tagebuch in der cloud. Total privat. Unantastbar! Verschlüsselt! Lebenslang! Und wirklich neu: Gemeinsame Tagebücher: Texte, Bilder – auch solche die nicht jeder sehen soll –, Filme. Oder die Geschichte einer Krankheit, Befunde, Entwicklungen, medizinische Eingriffe, positive und negative ärztlicheMaßnahmen, Messwerte der iHealth-Geräte usw. Kann man später dann mal mit Abstand betrachten. Oder Passworte. In der Blockchain! Von überall aus erreichbar mit einem einzigen Masterpasswort.“ ,,Sorry, wie wollt ihr diese Daten vor fremdemZugriff schützen?“ ,,Behold: Das Masterpass – mit mindestens zwölf Zeichen.“ ,,Und das soll ausreichen? Wie sicher ist denn eure Software überhaupt?“ ,,Kein Problem, die Blockchain-Software ist Open Source. Da kümmern sich andere drum, man kann die Verschlüsselung ja auch der Technikentwicklung anpassen.“

Pia wird etwas unruhig. ,,Wird die denn zuverlässig weiter gewartet? Soweit ich weiß, sind weniger als zehn Prozent angefangener Blockchain-OS-Systeme noch aktiv. Die anderen werden nicht geupdatet, wenn Schwachstellen in der Krypto sind, oder besser gesagt, wenn Schwachstellen gefunden werden, denn wir sprechen ja hier immer noch von Software, Software ist nie fehlerfrei. Und eine klare Definition, was sie eigentlich machen soll, steht ja letztlich auch aus.“ ,,Bei uns ist Software sicher!“, trumpft Alex auf. ,,Heißt das, Eure Blockchain ist formal verifiziert? Kann ich kaum glauben.“ ,,Nee, das

nun nicht. Aber Kirami, ja, genau, der Kirami von der Krypto-Foundation, hat geschrieben, dass er sie so lange er etwas Zeit findet, weiter warten will und Updates pusht. Und wenn er aufhört, macht es jemand anders, die developer community ist riesig. Und was soll dann schon noch schief gehen? Sie läuft ja bei uns.“ Pia ist nicht überzeugt, dass SERVANDA-Software einfach jahrelang oder gar jahrzehntelang läuft, ohne dass Fehler auftreten, die unbedingt behoben werden müssen. Aber da ist noch ein weiteres Problem, das ihr in den Kopf kommt. ,,Die Daten sind ja nun für immer in der öffentlich einsehbaren Chain, wie sichert ihr die denn? Zehn Zeichen lange Passwords sind heute schon problematisch. Zwölf ist derzeit Standard.

Aber in zehn Jahren – oder gar fünfzig? Es gibt ja jetzt allerlei Versuche mit Quantenrechnern. Für die sind die meisten Verschlüsselungen ein Klacks, wenn sie entsprechend viel Bits gleichzeitig nutzen können. Bei 12 Zeichen wären das,Moment mal, kommen ja nur die Zeichen in Frage, die auf allen verwendeten Eingabegeräten genutzt werden können – das sind, glaub ich 72 verschiedene. Bankenüblich heißt daswohl. Also grob 75 Bit für 12 bankenübliche Tastaturzeichen. Meinst Du dass in zehn Jahren keine Quantenrechner auftauchen, die mit 75 Qbits rechnen. Oder halt in 20, 30 oder 50 Jahren?“ ,,Ach ja, Quantencomputer“, unterbricht Alex ihren Redeschwall ,,die kommen so schnell nicht.“

Alex’ Euphorie wird durch die Einwände ein wenig gedämpft, aber sein breites Grinsen verschwindet nie ganz. ,,Pia, ganz ehrlich, unsere Klitsche besteht eher aus Designern und PR-Strategen und etwasManagement. Ich bin der einzige Programmierer. Wir haben aber eine richtig coole Website, stehen in allen Suchmaschinen an oberster Stelle und haben die besten Referenzen. Ich verstehe ja deine mathematischen Einwände, aber das ist eben Theorie. Ganz praktisch können wir ein System anbieten, das nicht manipuliert werden kann und das ohne externe Aufsicht auskommt.“

,,Alex, die Quanten-Disruption wird kommen. Und selbst wenn nicht die Krypto gebrochen wird, wie stellt ihr denn sicher, dass sich genug Leute an diesem System beteiligen? Dass es überhaupt mit handelsüblicher Hardware betrieben werden kann? Was, wenn es einfach nicht mehr genutzt wird, oder schlimmer, was, wenn es geforked wird? Was, wenn die Transaktionskosten so teuer werden, dass bestehendeVerträge einfach nicht mehr geändert werden können, weil es die Vertragspartner ruinieren würde? Was, wenn…“ ,,Ich seh schon, wir brauchen vielleicht wirklich einen Mathe-Freak bei uns. Wie ist denn deine Gehaltsvorstellung? Hättest du Interesse, bei uns einzusteigen und dich um diese Themen zu kümmern?“ ,,Nein, danke, ich muss viel zu viel lesen und noch viel mehr schreiben, das schaffe ich nicht zusätzlich.“

Als sie sich verabschiedet haben und Pia sehr lange auf den Bus warten muss, schaut sie sich auf der Website von SERVANDA um. Noch während sie surft, wird die Website aktualisiert. Unter der Überschrift ,,5 Fakten, warum Sie auf SERVANDA vertrauen können“ liest sie nun: ,,Mehr als 90% der Blockchain-Lösungen sind anfällig für die Quanten-Disruption. Unser System wird regelmäßig an den neuesten Stand von Wissenschaft und Technik angepasst, so dass sie sicher sein können: Pacta sunt SERVANDA!“

Fragen

  • Dürfen Informatiker denkbare Risiken in ihren Produkten offen lassen? Müssen Sie an der Lösung arbeiten, sowie sie erkannt werden? Müssen Sie sie wenigstens offen ansprechen?
  • Open-Source-Software-Lizenzen beginnen oft mit einem Haftungsausschluss, kann sich eine Entwicklerin oder ein Entwickler so einfach aus der Haftung stehlen? Oder Nutzerinnen und Nutzer?
  • Ist es ein moralisches Problem, bei Software-Problemen zu sagen: Davon versteh ich nichts, das macht die community?
  • Gehen die relevant erscheinenden Risiken Pia überhaupt etwas an?
  • Besitzt Pia eine moralische Verpflichtung, Arbeit in die Lösung der von ihr angesprochenen Probleme zu stecken? Hätte Sie Alex’ Arbeitsangebot annehmen sollen?
  • Sind Sicherheitslücken, noch dazu unentdeckte, überhaupt ein moralisches Problem?
  • Wie soll man verantwortlich mit Software umgehen, die hundert Jahre eingesetzt werden soll?
  • Sind Entwicklerinnen und Entwicklermoralisch dazu verpflichtet, zukünftige Technologien wie Quantencomputer in ihre Überlegungen einzubeziehen?
  • Das Start-Up besteht aus mehreren Personen. Tragen die (Medien-)Informatikerinnen und Informatiker eine größere Verantwortung als die anderen Firmenmitglieder? Tragen die Gründungsmitglieder eine größere Verantwortung als die Angestellten?

Erschienen im Informatik Spektrum 41(2), 2018, S. 146-147

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