Debora Weber-Wulff
Luise promoviert seit zwei Jahren in der Umweltinformatik bei Frau Prof. Holzmann. Eines Morgens platzt Prof. Holzmann in Luises Büro. Ein wichtiges Gutachten soll für das Ministerium erstellt werden – und das sehr kurzfristig: in nur vier Wochen. Sie selbst hat gerade gar keine Zeit. Kann Luise einen Entwurf schreiben? Das Thema ist ihr ja nicht unbekannt, da es ein Teilbereich ihrer Dissertation ist, und die gewünschte Empfehlung des Gutachtens ist evident.
Luise stürzt sich in die Arbeit, recherchiert, liest, exzerpiert und schreibt meist bis nach Mitternacht. Mit reichlich Ingwertee und fair gehandelter Schokolade macht ihr das Schreiben großen Spaß, denn sie freut sich auf ihre erste Publikation als Mitautorin. Schließlich bittet sie ihren Freund Max – ein arbeitsuchender Geisteswissenschaftler – den Text zu überarbeiten und sprachlich zu polieren. Trotz aller Eile ist sie stolz auf die 35 Seiten, die sie erstellt hat, und auch Prof. Holzmann ist überaus zufrieden: „Feine Arbeit!“
Luise promoviert weiter und stolpert etwa ein Jahr später über das Gutachten im Netz. Der Text kommt ihr sehr bekannt vor, aber als Autorin ist nur Frau Prof. Holzmann und ihr Institut angegeben, nicht Luise. Nicht einmal in einer Fußnote ist sie erwähnt – keine Danksagung. Zornig stürmt sie in Holzmanns Büro und fragt, warum sie nicht genannt ist. Prof. Holzmann antwortet, dass nach den Vorgaben das Gutachten von einer Professorin stammen soll, nicht von einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin. Aber sie habe wirklich fein zugearbeitet. „Zugearbeitet?“, denkt sich Luise, „ich habe das allein und mit der Unterstützung von
Max erstellt!“
Sie bittet Max, nun ihr Ex-Freund, der inzwischen in der PR-Abteilung einer Mineralölfirma arbeitet, um eine Kopie des Gutachtens. Ihr alter Rechner hat vor ein paar Monaten rettungslos den Geist aufgegeben. Ihre Dissertationstexte und Daten waren zum Glück in der Cloud, aber von den anderen Texten hatte sie leider keine Kopie. Max sagt, er habe in einem Wutanfall alles von ihr gelöscht und weggeworfen, und er ersucht sie, ihn nicht mehr zu kontaktieren.
Auch ohne einen Vergleich mit der Originalfassung ist Luise davon überzeugt, dass das im Netz veröffentlichte Gutachten nahezu vollständig aus ihrer Feder stammt. Da das Thema des Gutachtens gut zu ihrer Promotion passt, verweist sie im Text ihrer Dissertation mehrmals darauf. Und im Literaturverzeichnis weist sie sich als alleinige Autorin des Gutachtens aus.
Sechs Monate nachdem sie ihre Doktorarbeit eingereicht hat, bekommt sie den Bescheid: durchgefallen! Völlig fassungslos geht sie zu ihrer „Doktormutter“ und verlangt eine genauere Erklärung. Prof. Holzmann zeigt auf einen markierten Eintrag im Literaturverzeichnis der Dissertation. „Warum steht da Ihr und nicht mein Name? Mein Institut, mein Gutachten! Außerdem ist Ihre Dissertation voller Rechtschreibfehler. Was für ein aufgeblähtes Elaborat: Mehr als die Hälfte der Titel im Literaturverzeichnis werden im Text überhaupt nicht referenziert. Aktuelle Publikationen werden kaum berücksichtigt, stattdessen werden meist veraltete Textfassungen zitiert. Und die Ergebnisse? Belanglos und nicht promotionswürdig, da trivialer Wissenschaftsjournalismus.“ Prof. Holzmann fasst auch die anderen Dissertationsgutachten zusammen: Die Kollegen sehen das ähnlich, einer habe sich vor allem über dieses unnötige Gendern und Denglisch echauffiert. Das Votum sei einstimmig. Schließlich betreibe man am Institut seriöse Grundlagenforschung.
Luise wendet sich an den Ombudsman der Universität, Prof. em. Eule, und klagt ihr Leid. „Hm, schwierig. Und fürwahr nicht das erste Mal“, sagt er. Er muss sich schon wieder mit einem Fall seiner Schülerin Holzmann beschäftigen. „Können Sie mir bitte Ihre Version des Gutachtens zeigen? Dann könnte man untersuchen, ob eine Autorenschaftsanmaßung vorliegt.“ Luise erklärt ihm ihren Datenverlust. „Kein Backup? Dann kann ich bedauerlicherweise nichts für Sie tun. Und in die Beurteilung einer Dissertation kann ich nicht eingreifen. Das obliegt dem Gutachtergremium, das im Übrigen in dieser Angelegenheit einer Meinung ist.“
Fragen:
- Hat Frau Prof. Holzmann wissenschaftliches Fehlverhalten begangen?
- Hat Luise wissenschaftliches Fehlverhalten begangen?
- Was kann Luise jetzt tun?
- Wie ist der Freundschaftsdienst von Max zu bewerten?
- Durfte Luise Max in das Gutachtenprojekt einbinden?
- Durfte Max den Text überhaupt lesen?
- Und was, wenn statt Max eine KI den Text des Gutachtens überarbeitet hätte?
- Befindet sich der Ombudsman in dieser Sache in einem Interessenkonflikt?
- Sollte es für Promovierende eine Pflicht zur Datensicherung geben?
- Wie könnte man dem Problem der Autorenschaftsanmaßung begegnen?
Erschienen in .inf 07, Das Informatik-Magazin, Herbst 2024, https://inf.gi.de/07/gewissensbits-eine-undankbare-auftragsarbeit
1. Ja
2. Jein, nur einen verzeihlichen Sorgfaltsmangel, die publizierte Fassung des Gutachtens nicht zu prüfen.
3. Tja…
4. Max sollte konventionellerweise eine Danksagung bekommen, siehe aber (7).
5. Ja.
6. Ja, das sollte im Zeitalter vernetzter Systeme Stand der Praxis sein.
7. https://credit.niso.org/
Hallo, danke für den Hinweis auf CRediT! Und ich habe sehr schmunzeln müssen über die Antwort »Tja…«, denn genau so geht es vielen allzu oft. :-)