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Fallbeispiel: Nachhaltigkeit im digitalen Wettbewerb

Dominik Pataky, Christina B. Class

Noah ist Mitgründer und CTO von SmartEcoTours, einem kleinen und aufstrebenden Startup. SmartEcoTours vermittelt auf seiner Internet-Plattform nachhaltige Reisen und Ausflüge, die von sorgfältig ausgewählten Partnern angeboten und von Kunden auf der Plattform gebucht werden können. Alle Angebote sind nachhaltig gestaltet und werden, größtenteils durch anerkannte Umweltzertifikatebeglaubigt, umweltschonend durchgeführt. Die Finanzierung der SmartEcoTours-Plattform erfolgt durch die Vermittlungsgebühren von Buchungen.

In der sechsjährigen Geschichte des Startups war Noah schon für diverse Umgestaltungen und Erweiterungen der Plattform verantwortlich, um einerseits die Stabilität des Onlineangebots zu garantieren und andererseits der immer größer werdenden Kundennachfrage nach Reise- und Urlaubszielen und dem wachsenden Angebot gerecht zu werden. Das zunehmende Interesse an nachhaltigem Reisen hat die letzten Jahre einen erheblichen Schub in den Besucher- und Buchungszahlen eingebracht. Das hat zwar für großes Umsatzwachstum gesorgt, musste gleichzeitig aber von Noah und seinen Mitstreitern technisch rechtzeitig unterstützt werden. Die Stabilität der Plattform ist essenziell, um keine Kunden zu verlieren. Auch wenn sie nicht über große Reserven verfügen, ist Noah mit der aktuellen Situation zufrieden und zuversichtlich, dass sich das Unternehmen auch weiterhin in diesem hoch kompetitiven Markt behaupten kann.

Dieser Erfolg liegt auch daran, dass zur Plattform über die Jahre mehr und mehr Funktionen hinzugefügt und neue Technologien integriert wurden. Der ursprüngliche Prototyp, bestehend aus einer Website mit dahinter liegenden Skripten und einer Datenbank, entwickelte sich im Laufe mehrerer Iterationen zu einer komplexen Software-Landschaft, eigens zugeschnitten für alle Anwendungsfälle der Plattform. Mittlerweile koordiniert Noah mehrere spezialisierte Abteilungen, z. B. für Daten-Schnittstellen, für die Verwaltung des verteilten Serverclusters sowie das Machine-Learning-Team, welches mit Hilfe künstlicher Intelligenz neue Angebote erstellen will. Leider kommt aber auch bis heute immer wieder hinzu, dass Altlasten aus der ersten Version der Plattform noch gewartet werden müssen, da bisher keine Zeit war, alle alten Komponenten ordentlich zu migrieren. Aber SmartEcoTours bietet nicht nur nachhaltige Ausflüge und Reisen an, sondern hat sich auch selbst viele Nachhaltigkeitsziele gesetzt, um langfristig eine positive Klima-und Sozialbilanz erreichen zu können. Als ausformulierte Jahresziele erstellen Noah und seine Kollegin Freya, ebenfalls Mitgründerin und CEO von SmartEcoTours, dazu jeden Januar eine Neuauflage der Corporate-Social-Responsibility-Richtlinien (CSR-Richtlinien), deren Einhaltung am Ende des Jahres von Dritten auditiert wird. So ist garantiert, dass SmartEcoTours auch das hält, was es verspricht. Darüber hinaus ist das kleine Unternehmen auch Teil eines Social-Entrepreneurship-Netzwerks, um sich mit Gleichgesinnten auszutauschen und den eigenen Überzeugungen mehr Gewicht zu geben.

Noahs Verantwortung ist im Kontext der Klimaziele unter anderem die Überprüfung der Energiequellen der Rechenzentren, in denen die eigene Plattform betrieben wird. Hierzu besucht Noah die Anlagen vor Ort beim Betreiber und lässt sich bescheinigen, dass aller Strom des Rechenzentrums aus erneuerbaren Energien geliefert wird. Auch wird die eigene Hardware so lange wie möglich verwendet und anschließend umweltgerecht entsorgt. Die Auditoren bescheinigen SmartEcoTours hier immer wieder hervorragende Ergebnisse.

Allerdings wurde in den Berichten der letzten beiden Jahre der phasenweise hohe Arbeitsdruck insbesondere in den technischen Teams erwähnt. Die Sorge, die Konkurrenz könnte die Marktposition von SmartEcoTours streitigmachen, hat im gesamten Team immer wieder zu stressigen Phasen mit wenig Schlaf und viel Frustration gesorgt. Noah ist sich bewusst, dass hier noch einiges zu tun wäre, aber auch in diesem Jahr waren nicht genügend Mittel vorhanden, um eine weitere Stelle zu schaffen. Sie konnten ihr Ziel der mitarbeiter-orientierten Gestaltung der Arbeitsbedingungen sowie des Abbaus der Überstunden wieder nicht ganz erreichen. Die Realisierung dieser Ziele ist im nächsten Jahr zu einer der Top-Prioritäten erklärt worden.

Abseits der bestehenden Herausforderungen steht nun  eine folgenreiche Entscheidung der beiden Gründer an:

Nach ersten Kontakten auf der letzten Messe hat ein anderes Unternehmen, AdventureLive, Interesse an einer Beteiligung an SmartEcoTours geäußert. Nachdem Freya mit Vertretern von AdventureLive erste Gespräche führte, sucht sie das Gespräch mit Noah. Noah ist überrascht und auch schockiert. Er weiß zwar, dass ihre Reserven nicht allzu üppig sind, ist aber von der Idee einer Beteiligung nicht wirklich begeistert. Freya hingegen erläutert, dass sie neue Ideen und Angebote entwickeln müssten, um ihre Marktposition zu behalten und die vorhandenen Mittel seien zu knapp, um große Investitionen zu tätigen. Wenn sie nicht aktiv würden, könnten sie mittelfristig Probleme haben, Kunden zu halten. Es sei ja nicht so dringend und sie habe Noah nicht damit beunruhigen wollen, aber die Gelegenheit sei einfach sehr günstig: AdventureLive wollten nur 15% am Unternehmen und seien durch ihre Kompetenzen im Video-Livestreaming ein vielversprechender Partner.

In den Gesprächen ergab sich nämlich, dass sie gemeinsam ein neues und sehr attraktives Angebot aus der Kombination von Plattform und Video entwickeln könnten. Sie stellt Noah die Idee vor: Der Clou in einer Verbindung der SmartEcoTours-Plattform mit dem Video-Livestreaming-Service läge darin, dass Kunden von SmartEcoTours die Möglichkeit haben sollen, als Zusatzangebot ihr Abenteuer live über die Plattform zu übertragen. Hierfür könnten sie eine am Rucksack oder an der Ausrüstung montierbare Kamera mieten und mit dieser den Stream in Echtzeit verbreiten. Sie könnten auswählen, ob die Aufnahmen öffentlich oder nur für Freunde und Verwandte sichtbar sind. Darüber hinaus können auch eigene Kameras, z.B. solche von Smartphones, mit dem Service verbunden werden. Die Integration des Streamings wäre ein neues Feature imPortfolio von SmartEcoTours, führt zu Einnahmen durch Gerätegebühren und ermöglicht einen neuen Marketing-Kanal zu Zuschauern, welche als Neukunden der Plattformgewonnen werden könnten.

Doch Noah sieht vor allem eine riesige Welle technischer Herausforderungen auf sein Team zurollen: Wie gut ist das skalierbar? Brauchen wir neues Personal für die Verbindung der Plattformen? Was machen wir bei Inkompatibilitäten der Software, wie lange soll der Fusionsprozess anhalten? Wie werden die Videodaten ausgeliefert, ist die dafür notwendige Infrastruktur noch überprüfbar nachhaltig? Woher kommen die Kameras und wie kommen diese zu den Kunden? Wer übernimmt die Wartung und Entsorgung der Geräte? Und kann trotz des größeren Entscheiderkreises sichergestellt werden, dass die CSR von SmartEcoTours weiterhin realistisch sind?

Freya und Noah sind sich nicht wirklich einig, wie sie das Angebot bewerten sollen, müssen aber in den nächsten Tagen entscheiden, ob sie Verhandlungen aufnehmen wollen. Auf der einen Seite wäre die finanzielle Beteiligung eines umsatzstarken Partners richtig, um die Zukunft zu sichern, die notwendigen Erweiterungen des Angebots und der aktuellen Plattform vorzunehmen und die Qualität undIdeale weiter hoch zu halten. Auf der anderen Seite steht das Risiko, durch die Zusammenarbeit ihren Ruf zu riskieren, wichtige Weichen nicht mehr gemäß ihrer Unternehmensphilosophie stellen zu können und so ihre Marktposition und Wettbewerbsfähigkeit im Ökotourismus aufs Spiel zusetzen.

Fragen

  1. Sollten die beiden der Beteiligung zustimmen?
  2. Zum Thema Nachhaltigkeit zählt auch, dass Menschenweniger reisen und so die Umwelt geschont wird. Hierbei stellt sich die Frage, was zuerst kommt, die Nachfrage oder das Angebot. Könnte man behaupten, dass erst die Verfügbarkeit der Angebote auf der SmartEcoTours-Plattform eine erhöhte Nachfrage provoziert? Wie verhält sich diese Frage im Kontext des potenziellen neuen Angebots in Form von Videostreaming? Besteht das Risiko, dass das ressourcen-intensive Videostreaming später mehr Schaden verursacht, als anfangs gedacht?
  3. SmartEcoTours verfügt über eine von Externen auditierte CSR-Richtlinie. Wie können Kunden beurteilen, wie ernst Richtlinien gelebt werden? Woher wissen Kunden, ob Richtlinien eher dem Marketingzweck dienen? Wie können Freya und Noah Kunden über CSR-Richtlinien informieren, ohne in den Verdacht zu geraten, diese für Werbezwecke zu formulieren?
  4. Die angebotenen Reisen und Ausflüge von SmartEco-Tours verfügen über Umweltzertifikate. Für Außenstehende ist oft schwer nachzuvollziehen, wie gut Umweltzertifikate sind. Manche dienen eher Marketingzwecken oder sollen gesetzliche Regelungen verhindern. Die Zertifizierung kostet in der Regel Geld. Nach welchen Kriterien soll eine Firma entscheiden, welche Zertifikate beantragt werden? Wie kann ein Kunde überprüfen, wieviel ein Zertifikat wert ist? Was passiert, wenn ein Umweltzertifikat im Laufe der Zeit z.B. durch Betrügereien an Wert verliert? Inwiefern fällt das auf bereits zertifizierte Firmen und Angebote zurück? Sollte man nach Möglichkeit mehrere Zertifikate haben?
  5. Wären andere Modelle einer „Zertifizierung“ von Angeboten denkbar, die z. B. auf Reviews vieler Nutzer basieren? Wie könnte hier eine Qualitätskontrolle aussehen?
  6. Wie sollte Noah mit den kritischen CSR-Audits bzgl. der Arbeitsbedingungen in seinem Team umgehen?
  7. Sollte Noah neben der Überprüfung der Energiequellen auch prüfen, welche Auswirkung der Betrieb von ineffizienten Legacy-Komponenten und der Overhead von verteilen Systemen auf den Stromverbrauch hat? Könnte die verstärkte Verwendung von ausgereifter und optimierterfreier Software, welche von vielen Wettbewerbern und Nutzern zusammen offen entwickelt wird, hier einen Unterschied machen?
  8. Machine-Learning-Algorithmen könnten zu einem späteren Zeitpunkt bei der Sortierung und Filterung von neuen Angeboten unterstützend eingreifen. Wie kann beim Einsatz von automatisierten Prozessen, deren Entscheidungen möglicherweise gar nicht mehr zeitnah von Menschen überprüft werden können, sichergestellt werden, dass weiterhin nur die nachhaltigsten Angebote auf der Plattform angeboten werden?
  9. Kann Infrastruktur, die über die Anmietung von Schränken in Rechenzentren hinausgeht, überhaupt kontrolliert werden? Welche Möglichkeiten hätte Noah, z. B. ein für Videostreaming notwendiges Content Delivery Network auf Umweltstandards zu prüfen?
Erschienen im Informatik Spektrum 43 (4), 2020, S. 302–304, doi: 10.1007/s00287-020-01289-w

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