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Fallbeispiel: Panoptikum vs. Zivilcourage

Thomas Kittel & Carsten Trinitis

Eine Firma aus Bayern entwickelt Kamerasysteme und Software zur Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen. Durch eine neue Funktion soll es dem System jetzt auch unter Zuhilfenahme von mehreren Mikrofonen möglich sein, verschiedene Geräusche (z. B. Schüsse) an einem Ort genau lokalisieren zu können. Dazu werden durch die Mikrofone aufgenommenen Daten auch aufgezeichnet.

Die Daten sind dabei so gut, dass sich daraus recht einfach einzelne Konversationen extrahieren lassen. Es ist nun in Echtzeit möglich, über Gesichtserkennung und eine Anfrage bei Facebook festzustellen, wer auf einem Überwachungsvideo zu sehen ist, und automatisch zu extrahieren, was die Person sagt.

Obwohl sich die Mitarbeiter der Entwicklungsfirma der Konsequenzen auf die Privatsphäre der Beobachteten bewusst sind, halten sie die Technik doch für einen wichtigen Baustein in der Verbrechensbekämpfung, da sie annehmen, dass potentielle Kriminelle innerhalb des mit Kameras ausgestatteten Bereiches abgeschreckt werden.

Aus diesem Grund bewerben Sie ihr System auch als Videoschutzsystem.

Mitarbeiter Bernd ist sich zwar im Klaren, dass durch die neue Technik nicht nur die Bewegungsprofile der Menschen gespeichert werden, sondern auch deren Konversationen für 30 Tage aufbewahrt werden. Er kann sich jedoch nicht vorstellen, dass jemand diese Daten für niedere Zwecke missbrauchen könnte. Außerdem, so denkt er, ist die Firma ja ohnehin noch so klein, dass sich niemand für die erhobenen Daten interessieren würde.

Daher, und weil das Budget für das Systembeschränkt ist, setzt er die entsprechenden Server und Datenbanksysteme, auf denen die sensiblen Daten gespeichert werden sollen, selbst auf, ohne sich vorher imDetail mit dem Thema Datensicherheit zu beschäftigen.

Nach einer 18-monatigen Testphase an zwei zentralen Plätzen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Stadt soll das neue audiovisuelle Überwachungssystem nun flächendeckend in der Stadt eingesetzt werden.

Politik wie Exekutive sprechen von einem wichtigem System, das die Verbrechensrate in der Stadt bereits gesenkt hat und mit Hilfe der neuen Technik weiter senken kann (,,Unsere Erfolge geben uns recht!“). Obwohl viele Bürger der Stadt amAnfang sehr misstrauisch waren, da sie nun flächendeckend überwacht werden und sogar all ihre Konversationen gespeichert werden, haben sich die meisten doch schnell an das System gewöhnt und fühlen sichmit dem System sehr sicher.

An einem lauen Sommerabend, nach dem Ende der Testphase, fahren zwei Journalisten aus dem Ausland mit dem Bus durch das Stadtzentrum. Sie beobachten durch das Fenster, wie ein einzelner Mann rückwärts aus einem Lokal auf die Straße stolpert. Dem Mann folgen unvermittelt zwei weitere Personen mit kräftiger Statur, die den am Boden liegenden attackieren.

Die Touristen beobachten auch, dass sich umstehende Passanten, anstatt einzugreifen, zurückziehen und das Geschehen aus sicherer Entfernung beobachten, während die Täter weiterhin auf das blutend am Boden liegende Opfer einschlagen. Unter den Passanten befindet sich auch Peter, der davon ausgeht, dass die Täter problemlos mit Hilfe der Audio- und Videoaufzeichnungen identifiziert und überführt werden können.

Peter unterlässt es demnach, selbst einzugreifen, da er die Gefährdung seiner Person als unnötig einschätzt.

Die Touristen im Bus bitten indes den Busfahrer, einen Notruf abzusetzen und anzuhalten, um sie aus dem Bus zu lassen, damit sie in der Situation einschreiten können. Der Busfahrer entgegnet jedoch nur: ,,Macht Euch keine Gedanken, das ist alles auf Video. Sie werden die Täter schon finden“. Eine weitere im Bus sitzende Passantin schreit die Touristen noch an: ,,Wollt Ihr Euch umbringen, die machen doch vor Euch keinen Halt“. Im Vorbeifahren sehen sie noch den regungslosenKörper des Opfers in seinem eigenen Blut liegen.

Nach dem Vorfall wird der Polizist Karl beauftragt, die Videodaten zu sichten und herauszufinden, was genau an besagtem Abend passiert ist, und um wen es sich bei den Tätern handelt. Zuerst befragt der Polizist einige Passanten, darunter auch Peter, dessen Kontaktdaten direkt nach dem Vorfall durch eine Funkzellenabfrage ermittelt und welcher daher in Folge automatisch vorgeladen wurde. Die meisten Zeugen können sich jedoch nur noch sehr vage an den Vorfall erinnern. Sie haben das Ereignis schon verdrängt in der Annahme, dass das Geschehene doch bereits auf Video aufgezeichnet wurde. Daraufhin beantragt Karl Einsicht in die Audio- und Videoaufnahmen des Tatortes. Nach ca. zwei Wochen erfährt er jedoch, dass die Kameras an besagtem Ort zum Tatzeitpunkt anscheinend defekt waren. Aus den Tonaufnahmen kann er jedoch entnehmen, dass das Opfer in dem Lokal schon längere Zeit von den Tätern bedroht wurde. Aufgrund der fehlenden Videoaufnahmen verläuft die Ermittlung jedoch nach kurzer Zeit im Sand.

Wieder zu Hause angekommen, schreiben die beiden Journalisten einen Artikel über Zivilcourage in Deutschland, der sowohl in einer großen Zeitung als auch im Internetportal der Zeitung veröffentlicht wird. In den sozialen Medien entsteht schnell eine Diskussion über den Vorfall, der dazu führt, dass der Vorgang auch in den klassischen Medien tiefer beleuchtet wird. Es wird deutlich, dass die gefühlte Sicherheit in Wahrheit zu einer großen Unsicherheit und Gleichgültigkeit führt, da sich niemand mehr selbst in der Verantwortung sieht. Nach genauerer Analyse wird auch klar, dass sich das Verbrechen nur von den großen Plätzen an andere, nicht überwachte Orte verlagert hat. Insbesondere ist das Verbrechen an einigen dieser Orte mittlerweile so schlimm, dass sich die Bürger nicht mehr in diese Stadtviertel trauen. Auch die Polizei hat Schwierigkeiten, an den neuen Verbrechensherden die Kontrolle zu behalten.

In der Folge besteht auch großes mediales Interesse an den Entwicklern des Überwachungssystems. Diese werden sich jedoch immer mehr der Schwächen des Einsatzes der Technik bewusst. Durch ihre Technik, die die Stadt eigentlich sicherermachen sollte, ist jetzt mindestens eine Person verstorben. Bernd, der Zweifel am zufälligen Ausfall der Kamerasysteme hat, durchsucht insgeheim noch einmal die Logdateien der Datenbank und bemerkt einige Zugriffe auf die Datenbank. Könnte es sein, dass jemand die Daten gezielt gelöscht hat? Da dies jedoch auf seinen eigenen Fehler beim Design der Datenbank und der entsprechenden Zugriffsrechte zurückfallen würde, beschließt er den Fund für sich zu behalten.

Insgeheim hofft er, dass sich die mediale Aufmerksamkeit bald wieder legen wird.

Fragen

Sollte die Technik als Allheilmittel zur Lösung gesellschaftlicher Probleme gesehenwerden?

  • Wie ist mit der Datenmenge der überwachten Bevölkerung umzugehen?
  • Welche Gefahren ergeben sich dabei?
  • Welche Konsequenzen sollte Bernd nach seinem Fund eigentlich ziehen?
  • Sollte er trotz des fehlenden Budgets seine private Zeit in das Projekt stecken? Soll er die Flucht nach vorne antreten und die Presse kontaktieren?
  • Wer sollte Zugriff auf die erfassten Daten bekommen? Aufgrund welcher (richterlichen) Vorbehalte?
  • Machen sich die Passanten aufgrund der unterlassenen Hilfeleistung strafbar?
  • Hat sich dieVerantwortung von der Zivilgesellschaft zu den Überwachern verlagert?
  • Kann überhaupt noch irgend jemand zur Verantwortung gezogen werden, wenn alles der Technik überlassenwird?

Erschienen im Informatik Spektrum 39(1), 2016, S. 82-84

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