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Fallbeispiel: The Hunt is On(line)

Constanze Kurz & Stefan Ullrich

Die junge Startup-Firma »Loose sCrew« hat sich auf Android-Apps spezialisiert, also kleinen Programmen für Mobiltelefone, die extensiven Gebrauch von den eingebauten Ortungsfunktionen des Smartphones machen. Stadtweite Schnitzeljagden und andere virtuelle Geländespiele mit dem Handy haben die Firma in ihrer Heimatstadt relativ bekannt gemacht. Das neueste Produkt namens »Mister X« ist eine Mischung aus Spaß und Ernst: Wird ein Handy eines Kunden gestohlen, sendet es in Intervallen seinen Aufenthaltsort zum Spieleserver, auf den sich dann registrierte Nutzer einwählen können. Diese »Hobby-Detektive« können mit der gleichen App sogar aus der Ferne ein Foto mit dem geklauten Handy auslösen oder dessen Mikrofon einschalten (als In-App-Kauf gegen Gebühr, versteht sich).

Nach einem halben Jahr hat sich schon eine richtige Community in der Stadt mit 80.000 Einwohnern gebildet – allein: Es gab noch keinen einzigen Diebstahl. Das sollte sich erst ändern, als der sCrew-Spieleserver den Hobby-Detektiven im April einen Diebstahl meldete. Alle zwei Minuten wird nun der aktuelle Standort des gestohlenen Handys in der »Mister X«-App dargestellt. Innerhalb einer knappen Stunde befinden sich bereits 23 Spieler auf der virtuellen Jagd.

Leon hat sein Spielekonto gerade erst aufgeladen, daher kann er es sich leisten, ein paar Fotos des geklauten Handys via »Mister X« zu schießen. Das erste Foto ist erwarteterweise schwarz, da sich das Telefon ganz offensichtlich noch in der Tasche des davonlaufenden Diebes befindet. Dass er davonläuft, ist sich Leon wegen der GPS-Koordinatenliste sicher – und nicht einmal sehr schnell. Mit einer Fingergeste fordert er einen zehnsekündigen Audiomitschnitt an, in dem neben lautem Geraschel auch eine männliche Stimme zu hören ist. Aufgeregt klickt er einen weiteren Mitschnitt herbei, und diesmal ist es ein Volltreffer: kein Geraschel, sondern eine klare Stimme mit breitem schwäbischen Akzent.

In der Spielecommunity ist Johanna zum »Senior Consultant Detective« aufgestiegen, also laufen während einer Jagd alle Informationen bei ihr zusammen. Als sie die aufgezeichnete schwäbische Stimme hört, fällt ihr sofort ein: In dem Städtchen gibt es nur zwei schwäbische Kneipen. Eine davon ist für sie in Fußreichweite zu erreichen. Sie schnappt sich im Rausgehen noch Geldbeutel, Handy und Netbook. Im Gehen verfasst sie noch schnell eine Twitter-Nachricht: »#mrX Target im Hirsch, Attacke FTW«.

Bewaffnet mit laufenden Kameras zur Beweissicherung stürmen fünf Gamer in die schwäbische Gaststätte »Zur goldenen Hirschkuh« und lösen auf dem geklauten Telefon einen lauten Hinweiston aus, der tatsächlich von einem der Tische erschallt. Der sichtlich erschrockene Herr mit Schnurrbart wird lauthals als Dieb beschimpft und sogar tätlich bedroht.

Als nach einem Anruf des Wirtes die Polizei eintrifft und die verschiedenen Aussagen zu einem Gesamtbild ordnet, stellt sich heraus, dass der bärtige Herr versehentlich das Telefon seiner Tochter Sophie mitgenommen hatte; wie es der Zufall will, war die ihn begleitende Dame sein heimliches Rendezvous, von dem niemand etwas wissen sollte. Doch da ein paar der zu Hause gebliebenen Gamer die Filmaufnahmen der »Razzia« vorschnell über Twitter und Facebook veröffentlicht und ihre »Jagd nach dem Dieb« für erfolgreich beendet erklärt hatten, wurde der Familienvater öffentlich bloßgestellt.

Die Firma »Loose sCrew« weist im Zuge der anschließenden Berichterstattung darauf hin, dass die Mister-X-Applikation eher als Geländespiel zu sehen ist. So müssten die Kunden explizit einwilligen, dass ihr Gerät jederzeit in eine Ortungswanze verwandelt werden kann. Sie argumentieren, dass der typische sCrew-Kunde ohnehin ständig per Twitter oder über andere Dienste seinen aktuellen Aufenthaltsort mitteilt.

FRAGEN

In diesem Szenario sind einige ethische Fragestellungen aufgeworfen. Die Hauptfrage ist die der Bewertung von solchen neuen Diensten:

  • Ist es ein ethisches Problem, dass »Loose sCrew« ein Programm zur gemeinschaftlichen »Jagd« auf Mobiltelefon-Diebe anbietet? Wie können Nutzer vermeintliche Straftäter von legitimen Mobiltelefonnutzern unterscheiden?
  • Die Verfolgung eines vermeintlichen Diebes erfolgt in »real time«, unmittelbar nach dem Auslösen des Alarms. Besteht die Gefahr, dass sich eine Art »Lynchmob« zusammenfindet? Wie ist diese Gefahr ethisch zu bewerten?
  • Bringt man den Diebstahl eines Mobiltelefons zur Anzeige, ist das Gerät mit allen privaten oder beruflich wichtigen Daten längst verhehlt. Ist »Selbstjustiz« in diesem Fall moralisch gerechtfertigt?
  • Der vermeintliche Dieb sprach mit breitem Dialekt. In der Hitze der Jagd kann daraus schnell eine unzulässige Verallgemeinerung auf ganze Bevölkerungsgruppen werden. Welche Rolle spielt die Gamer-Community hierbei?
  • In diesem Fall war der vermeintliche Dieb unschuldig. Wie würden Sie die Situation in moralischer Hinsicht bewerten, wenn es sich tatsächlich um einen Diebstahl gehandelt hätte? Sollen Fotos und Gespräche eines Kriminellen ohne dessen Einwilligung veröffentlicht werden dürfen?
  • Hat die Besitzerin Mitschuld? Die eigentliche Besitzerin des Telefons hat über Wochen hinweg all ihre Wege durch die Stadt aufgezeichnet und der Mister-X-Applikation angewiesen, Alarm auszulösen, sobald sich das Telefon auf einer noch nicht beschrittenen Straße befindet. Nehmen wir einmal an, dass die Besitzerin mit einer Freundin zum ersten Mal in deren Wohnung ginge. Die Software im Telefon würde in diesem Fall eine komplette Raumüberwachung durch die anderen »Gamer« ermöglichen. Entsteht daraus eine moralische Verpflichtung für die Handybesitzerin gegenüber ihrer Freundin? Wenn ja, welche?
  • Leon ist derjenige, der die Fotos auslöst und Mitschnitte anfordert. Würden Sie die Sache ethisch anders bewerten, wenn er diese Multimedia-Daten nicht an die Community von »Loose sCrew« weitergegeben hätte, sondern lediglich eine zusammengefasste Information?
  • Wie bewerten Sie die Bloßstellung des bärtigen Herrn durch das Veröffentlichen der Filme und Fotos? Bedenken Sie, dass er sich ohnehin in der Öffentlichkeit befand.

Erschienen in Informatik Spektrum 36(2), 2013, S. 208–209

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