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Fallbeispiel: Übungsaufgaben

Der Fachbereich Praktische Informatik an der Universität Bernau bietet für die Studierenden im ersten Semester die Übung „Programmieren 1“ an. Etwa 150 Studierende sollen in sechs Gruppen die Grundlagen des Programmierens erlernen. Begleitend zur Vorlesung sollen die Übungen den Stoff des Semesters mit praktischen Aufgaben vertiefen.

Joachim ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Professors und in diesem Semester erstmalig Übungsleiter für „Programmieren 1“. Im Oktober sollen die Übungen beginnen. Joachim hat in der vorlesungsfreien Zeit aber noch zwei Paper anzufertigen, die unbedingt fertig werden müssen. Außerdem soll er den Vortrag der Forschungsgruppe auf der Jahres¬tagung der GI Ende September halten, wofür er sich noch mächtig vorbereiten muss.

Der Beginn des Semesters ist bedenklich nahe gerückt und Joachim hat noch nicht einmal angefangen, die Aufgaben zu formulieren, geschweige denn die Musterlösungen zu programmieren. Als sich Joachim nach der Tagung mit den Tutoren Sascha und Julia zusammensetzt, um den Ablauf zu besprechen, fragen sie schon nach die Lösungen, damit sie sich besser für die Übungsbetreuung vorbereiten können. Joachim verspricht sie für das nächste Treffen.

Joachim ahnt schon, dass es ein Problem sein könnte, in so kurzer Zeit gute Übungsaufgaben zu entwerfen. Er hat aber eine Idee. Die Übungsaufgaben der letzten beiden Jahre hatten sich als geeignet herausgestellt, und sie sind noch online zu bekommen. Er surft weiter und findet an andere Hochschulen viele gute Übungen, teilweise sogar mit Lösungen! Er erinnert sich auch an ein altes Lehrbuch. Die Aufgaben dort sind für eine nicht mehr gebräuchliche Programmiersprache gedacht, aber lassen sich sicherlich problemlos übertragen.

Er sucht sich sieben Aufgaben aus; zunächst drei gelöste aus dem Internet. Außerdem entnimmt er eine aus dem alten Lehrbuch, und dann drei weitere aus dem Fundus des alten Semesters. Bis zum Zeitpunkt der Kontrolle hat er sicherlich entweder Musterlösungen von Kollegen oder kann sie selber programmieren. Und da diese Aufgaben bereits erprobt sind, sind sie sicherlich besser als alles, was er sich auf der schnelle ausdenken könnte.

Beim Treffen mit den Tutoren unmittelbar vor Vorlesungsbeginn ist er immerhin so ehrlich, ihnen die Herkunft der Aufgaben mitzuteilen. Sascha und Julia werfen sich unsichere Blicke zu. Dass die alten Aufgaben erneut verwendet werden, hatten sie nicht erwartet. Beide wissen, dass mehrere ältere Studenten Webseiten mit den genauen Lösungen anbieten. Und wenn einige Aufgaben und Lösungen so schnell im Internet gefunden werden können dann werden sie wahrscheinlich 150-mal dieselbe Lösung eingereicht bekommen.

Sascha meldet seine Einwände an, aber Joachim winkt ab. Es sei nun eine richtig gute Mischung geworden, lässt er die beiden wissen. Die Studierenden werden auch gewarnt, keine Aufgaben vom Internet oder von Kommilitonen zu kopieren. Schließlich hat die Hochschule jetzt eine Software gekauft, um solche Kopien aufzuspüren. Wer mit Kopien erwischt wird, fällt durch die Übung und muss das Modul noch einmal belegen.

Julia fragt nach, ob das nicht etwas hart sei, schließlich wären die Aufgaben auch kopiert. Joachim verneint energisch: er habe ja Änderungen vorgenommen, die Bezeichner verändert und andere Zahlen verwendet. Sascha und Julia stimmen zu – sie sind auf ihre Tutoren-Jobs angewiesen, um die Miete zu zahlen.

FRAGEN

  • Handelt es sich hier um ein ethisches Problem? Wie beurteilen Sie das Handeln der drei Personen Joachim, Sascha und Julia?
  • Ist es überhaupt ein Problem, wenn alte Aufgaben wiederverwendet werden? Ist es gerecht gegenüber allen Studierenden, wenn einige die Lösungen schon kennen oder schnell finden können?
  • Einige Aufgaben wurden aus dem Internet kopiert. Muss Joachim belegen, wo er die Aufgaben her hat? Was ist, wenn dort auch Antworten zu finden sind?
  • Gerade alte Aufgabenstellungen musste man eigentlich als bekannt voraussetzen. Darf man sie wirklich verwenden? Ist es in Ordnung, sie zu verändern? Oder gibt es Aufgaben, wie die Türme von Hanoi, die alle Informatik-Studierende machen müssen?
  • Sind Übungsaufgaben überhaupt eine schöpferische Leistung, die geschützt ist?
  • Sollte Joachim seinerseits die Aufgaben im Netz publizieren? Kann er das guten Gewissens tun?
  • Ist es von Bedeutung, ob die Bewertung der Aufgaben in die Endnote mit eingehen?
  • Ist es nicht sinnvoll, sehr ähnliche Übungen anzubieten? Die Lernziele sind ja identisch geblieben, und es ist so für Wiederholer ein Vorteil.
  • Sind veröffentlichte Aufgaben einfach so, ohne Erlaubnis, nutzbar? Und wenn sie ohne Quellenangabe aus dem Netz übernommen wurden, ist dann nicht auch die Abgabe von Lösungen ohne Quellenangabe zulässig?
  • Ressourcenknappheit ist ein generelles Problem an vielen Universitäten. Ist es daher besser, alte Aufgaben zu nehmen, aber dafür eine gute Betreuung anzubieten? Denn wichtig ist ja, dass der Stoff verstanden wird.
  • Gibt es überhaupt die Erwartungshaltung, dass in jedem Semester neue Übungen verwendet werden?
  • Ist es ethisch vertretbar, Software einzusetzen, um gleiche Übungen aufzuspüren?

1 comment to Fallbeispiel: Übungsaufgaben

  • Je weiter ich im Studium kam, desto mehr kamen die Übungen aus der Retorte. Das liegt natürlich nicht zuletzt daran, dass gute Übungen höherer Schwierigkeit auch schwieriger zu entwerfen sind. Später im Studium haben aber die meisten Übriggebliebenen begriffen, dass sie nichts davon haben, Lösungen zu suchen und abzuschreiben.

    Im Grundstudium halte ich etwas Variation für sinnvoll, zumal das nicht allzu schwer fallen sollte. Aufgaben von Anderen zu verwenden, halte ich dabei für in Ordnung. Im Zweifel (also falls keine Lizenzen angegeben sind) kann man die jeweiligen Urheber schnell der Form halber um Erlaubnis fragen und/oder die Quelle angeben.

    Schaut euch das an: http://castingoutnines.wordpress.com/2010/11/24/cheating-at-central-florida/
    (und Folgebeiträge)

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