Carsten Trinitis & Ursula Münch
Maria ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem befristeten Projekt, das an ihrer Universität eingeworben wurde, beschäftigt und arbeitet dort seit eineinhalb Jahren an ihrer Promotion im Fach Informatik. Da das Forschungsprojekt in einem Monat ausläuft, muss Maria, um ihre Promotion erfolgreich abschließen zu können, über ein anderes Projekt finanziert werden. Maria ist eigentlich fest liiert mit einer Frau, Anna. Sie möchte Anna nicht so lange alleine lassen, da Anna Diabetikerin ist. Und sie ist sich sicher, nicht mit Anna zusammen dorthin fahren zu können.
Im vergangenen Jahr ist ihre Universität eine neue Kooperation eingegangen, und zwar mit einer neu aus der Taufe gehobenen Universität in einem mit Ölvorkommen gesegneten fernöstlichen Land. Das Gute daran: Damit stehen ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung, aus denen auch Marias Stelle bis zum erfolgreichen Abschluss ihrer Promotion gesichert werden könnte. Auch in fachlicher Hinsicht decken sich die Projektziele sehr gut mit denen ihres Promotionsthemas.
Die entsprechende Kooperation ist aber an Bedingungen geknüpft: Die Projektmitarbeiter müssen regelmäßig zum ausländischen Kooperationspartner reisen, mindestens zwei von ihnen sogar für mehrere Monate am Stück innerhalb von drei Jahren. Der Campus der neu errichteten Universität verfügt neben modernster technischer Ausstattung auch über zahlreiche Freizeitmöglichkeiten und kostenlose Verpflegung – kurzum: Geld spielt keine Rolle, um hier ideale Forschungsbedingungen zu schaffen. Auf diese Weise will die dortige Regierung Vorsorge für die Zeit „nach dem Öl“ treffen und Spitzenforscher aus aller Welt anlocken.
Das Land, in dem die neue Universität entsteht, ist neben seinem Reichtum jedoch auch dafür bekannt, dass dort elementare Menschenrechte missachtet werden. Die Meinungsfreiheit ist in letzter Zeit massiv eingeschränkt worden. Eine sogenannte Religionspolizei wacht streng über die Einhaltung der Gesetze. Auf tatsächliche oder vermeintliche Vergehen wie Ehebruch, Verschwörung, Sabotage, Hexerei oder Abfall vom Glauben steht die Todesstrafe, die häufig als öffentliche Enthauptung vollstreckt wird. Frauen dürfen ohne Zustimmung eines Mannes weder arbeiten noch Verträge unterzeichnen. Auch Auto fahren oder ohne Begleitung eines männlichen Verwandten ins Ausland zu reisen, ist Frauen untersagt. Sogar Vergewaltigungen in Ehegemeinschaften sind per Gesetz erlaubt.
Dagegen gelten gleichgeschlechtliche Partnerschaften als kriminelle Handlung und werden mit drakonischen Strafen geahndet. Da das Land über sehr hohe Finanzmittel verfügt, entstehen überall repräsentative Bauten, die von billigen Leiharbeitern – meist aus Drittweltländern – errichtet werden. Diese Leiharbeiter verfügen über so gut wie keinerlei Rechte und werden mehr oder weniger wie Leibeigene der Bauherren behandelt.
Doch innerhalb des Campus der neuen Universität gelten diese nach westlichen Maßstäben mittelalterlich anmutenden Gesetze nicht. Schließlich will man ja die besten Forscher (womöglich sogar Forscherinnen) aus dem Westen anzulocken und vor Ort eine liberale Atmosphäre zu schaffen.
Maria hat Skrupel, die Stelle anzunehmen. Da man normalerweise nur in Begleitung eines Mannes in das Land einreisen darf, ist nicht daran zu denken, dass Maria jemals mit Anna dorthin reisen kann. Die Situation vor Ort erscheint ihr unerträglich, und sie fürchtet, als Frau vor Ort massiv in ihren Freiheiten eingeschränkt zu sein. Wie soll sie ihren eigenen persönlichen Nutzen, den ihr das neue Projekt zweifelsohne bringen würde, mit ihrem Gewissen vereinbaren: Schließlich würde sie durch ihre Arbeit, in gewisser Weise doch auch das Regime vor Ort unterstützen und damit auch dessen Ablehnung rechtsstaatlicher Prinzipien.
Marias Kollege Josef, mit dem sie seit Beginn ihrer Promotion intensiv zusammenarbeitet und die gemeinsamen Ergebnisse veröffentlicht, sieht dies anders. Josefs Stelle ist bereits über das neue Projekt verlängert worden, der erfolgreiche Abschluss seiner Promotion hängt jedoch davon ab, ob Maria beim neuen Projekt zusagt und für einige Monate dort hingeht. Josef kann Marias Bedenken nicht nachvollziehen: Zum einen hat er noch nie auch nur annähernd so gute Forschungsbedingungen vorgefunden. Zum anderen, so versucht er Maria zu beruhigen, kann man das Projekt mit der neuen Universität doch auch als wichtigen Schritt in die richtige Richtung interpretieren: Durch die Präsenz von Forschern aus westlichen Kulturen werde es, das ist seine feste Überzeugung, eine Initialzündung zur Liberalisierung des in Sachen Menschenrechte noch immer rückständigen Landes geben.
Fragen:
In diesem Szenario geht es um eine grundsätzliche ethische Fragestellung, die häufig in technischen Berufen und besonders in der Informatik auftritt.
- Für Maria und Josef hängt der erfolgreiche Abschluss ihrer Promotionen von der Mitarbeit in dem Projekt ab. Die Finanzierung des Projektes kommt von der Regierung eines Staates, der elementare Menschenrechte eklatant missachtet. Soll Maria, um ihre Promotion erfolgreich abzuschließen, diese Tatsache ignorieren, oder soll sie ihrem Gewissen folgen und damit ihre und auch Josefs Promotion aufs Spiel setzen?
- Soll Maria ihrer Karriere zuliebe die Beziehung zu ihrer Partnerin Anna aufs Spiel setzen, in dem sie alleine in ein Land reist, in dem ihre Neigungen als verbrechen betrachtet werden und sie Anna alleine zurücklässt?
- Wird durch das Errichten neuer Großprojekte wie der Universität nicht auch noch die Ausbeutung der Leiharbeiter weiter vorangetrieben?
- Ist es überhaupt vertretbar, wenn Maria und Josef mit ihrer Expertise dazu beitragen, Regierungen, die die Menschenrechte missachten, zu unterstützen? Oder zementiert Maria, wenn sie sich dem Projekt verweigert, die Isolation das Landes, da sie verhindert, dass dort mehr Einfluss ausgeübt werden kann?
Erscheinen in Informatik-Spektrum 38(3), 2015, S. 249–250
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