Christina B. Class, Carsten Trinitis, Anton Frank
Die Digitalisierung kann Prozesse vereinfachen und Kosten einsparen, unter anderem in Hochschulen. Dieses Fallbeispiel zeigt jedoch, dass Veränderung nicht immer Verbesserung heißt.
Die Neue Technische Hochschule (NTH) in Neuhausen ist dreißig Jahre alt und hat knapp 5.000 Studierende. Sie leidet, wie auch andere Bildungseinrichtungen, unter stagnierenden Studierendenzahlen und knapp werdenden Finanzen. Wolfram, der neue Präsident der Hochschule, hat eine Antwort: Kosteneinsparung durch eine Vereinheitlichung der Softwaresysteme, durchgängige Digitalisierung und Zentralisierung der Hochschulverwaltung, insbesondere der studentischen Angelegenheiten. Sönke, Vizepräsident für Digitalisierung und Dekan der Informatikfakultät, reagiert recht zurückhaltend. Er ist seit acht Jahren Professor für Sicherheit in der Informationstechnik und stellt das versprochene Einsparpotenzial infrage. Er wird jedoch überstimmt und übernimmt als Vizepräsident die Projektleitung vonseiten der Hochschule.
Fatma hat vor drei Jahren zusammen mit Max die Beratungsfirma NurNochDigital GmbH gegründet. Unter dem Motto „Sorgenfrei in die Digitale Zukunft“ begleiten sie Digitalisierungsprojekte mit einem Rundum-sorglos-Paket: von der Planung der Projekte, Evaluation von Angeboten bis zur Beschaffung und Einführung der ausgewählten Software. Mittlerweile haben sie acht Angestellte: Die meisten der betreuten Projekte sind aber eher noch klein und sie brauchen dringend ein oder zwei größere Vorzeigeprojekte.
Da kommt die Ausschreibung für die Betreuung des Digitalisierungsprojekts an der NTH gerade recht. Fatma und Max kennen sich nicht wirklich mit den Prozessen einer Hochschule und deren Anforderungen aus, aber nach einiger Recherche und Kontakten mit Anbietern verschiedener Softwarelösungen auf dem Markt erstellen sie ein Angebot. Sie sind zuversichtlich, dass sie eine solide Kalkulation erstellt haben und das Projekt wie beschrieben mit Gewinn durchführen können. So schwer kann das doch nicht sein! Ihr Angebot erhält den Zuschlag.
Drei Monate später
Das Projekt ist angelaufen. Vonseiten der NurNochDigital hat Fatma die Verantwortung übernommen und ist gerade ziemlich genervt. Heute Morgen hatten sie wieder eine anstrengende Sitzung, diesmal mit Sönke, dem Leiter des Prüfungsamts und zwei Studiendekanen. Sie haben die Vorstellung der Verwaltungssoftware „SmartUniversity“ der Firma SUS AG von letzter Woche ausgewertet. Die Software kam gar nicht gut weg: Ihre spezifischen Prozesse sowie die verschiedenen Studien- und Prüfungsordnungen und unterschiedliche Zeitmodelle für Studierende könnten nicht ausreichend abgebildet werden. Dann hat sich auch noch Sönke gemeldet: „Wie werden denn die Daten im System verschlüsselt? Und wie die Zugriffsrechte verwaltet?“ Und dann hat er auch noch nach den Back-ups gefragt. Als die Sprache auf den kürzlichen, viel diskutierten Vorfall einer Ransomware an einer Universität kam, bei dem prüfungsrelevante Informationen verloren gingen und Klagen eingereicht wurden, wäre Fatma am liebsten einfach gegangen. Darum müssten sich die kümmern, die solche Softwarelösungen anbieten. Sie seien dafür jedenfalls nicht verantwortlich.
Weitere acht Monate später
Fatma blickt auf die Uhr. In einer halben Stunde beginnt die Krisensitzung mit der Hochschulleitung. Die letzten Monate waren sehr anstrengend. Nach viel Hin und Her und dem finalen Wort des Präsidenten wurde die Entscheidung für „SmartUniversity“ getroffen. Für die beschriebene Funktionalität war die Software unschlagbar günstig und versprach eine durch KI gestützte Optimierung der Prozesse. Anonymisierte und aggregierte Daten werden halbjährlich an die Firma weitergeleitet und zum Training genutzt. Das hat letztlich überzeugt, versprach es doch weiteres Einsparpotenzial.
Zu Anfang des Projekts hat Fatma noch alle Betroffenen eingebunden, aber das war irgendwann zu viel. Zusammen mit Volker von der SUS AG hatte sie daher entschieden, dass nur noch ausgewählte Personen eingebunden werden, um die Prozesse zu definieren, die anderen müssten sich dann eben anpassen. Das hat zwar Unmut erzeugt, aber letztlich konnte die Software rechtzeitig zu Semesterbeginn eingeführt werden. Die KI-basierte Optimierung der Prozesse mussten sie allerdings abschalten: Die vorgeschlagene Optimierung änderte Fristen für Studierende, sodass die Prozesse nicht mehr konform mit der Studien- und Prüfungsordnung waren. Zum Glück ist das rechtzeitig vor der Freischaltung aufgefallen, hat aber intern zu Unruhe geführt.
Und dann das: Vor zwei Tagen wurde in einer Fachzeitschrift ein Bericht veröffentlicht und in der Presse aufgegriffen. Anonymisierte Daten zweier Kunden der SmartUniversity-Software wurden einem Verein zum Schutz digitaler Daten zur Verfügung gestellt. Im Artikel wurde beispielhaft aufgezeigt, wie leicht Teile personenbezogener Daten wiederhergestellt werden können, sofern der Name der Hochschule bekannt ist. Sönke hat den Bericht umgehend an die Hochschulleitung weitergeleitet. Seine anfängliche Skepsis hat sich damit offensichtlich als begründet erwiesen. Gespannt fragt er sich nun, wie sich Fatma und Volker im Gespräch wohl aus der Affäre ziehen werden.
Fragen:
- Müssen dem großen Ziel einer modernen und effizienten Verwaltung – wie teils im angelsächsischen Raum propagiert – nicht IT-Sicherheit und Datenschutz ein Stück weit untergeordnet werden?
- Anonymisierte Daten werden zunehmend für das Training von KI-Modellen genutzt. Wie gut sind bestehende Verfahren? Welche Daten sollte man auch anonymisiert nicht zur Verfügung stellen? Ist es sinnvoll und ratsam, alles – wenn irgendwie möglich – mit KI zu „optimieren“?
- Hätte die Universitätsleitung die junge Firma vor den Risiken warnen und das Angebot ablehnen sollen, anstatt sie auflaufen zu lassen?
- Welchen Einfluss hat der Effizienzgewinn durch Zentralisierung von Prozessen und Konzentration auf wenige umfangreiche Systeme auf die Resilienz der IT-Landschaft hinsichtlich der Abhängigkeit von Herstellern und Verwundbarkeit?
- Fatma und Max haben ohne Expertise im Bereich der Hochschulverwaltung ein Angebot zur Projektbetreuung geschrieben. Müssen sie das offenlegen? Reicht es, wenn diese lokal in der Hochschule vorhanden ist?
- Softwareeinführungen sind oft ein langwieriger, kommunikationsintensiver Prozess. Ist es akzeptabel, die Transparenz gegenüber den Betroffenen zugunsten des Projektfortschritts zu reduzieren? Ist es möglich, Unmut über die in der Regel mit der Einführung verbundenen Änderungen der Arbeitsprozesse zu vermeiden?
Erschienen in .inf 09, Das Informatik-Magazin, Frühjahr 2025, https://inf.gi.de/09/gewissensbits-alles-wird-besser
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