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Fallbeispiel: Influencer werden – das schnelle Geld auf Kosten der Follower?

Gudrun Schiedermeier, Carsten Trinitis, Franziska Gräfe

Ben geht eigentlich ganz gerne in die Schule. Dort trifft er auch die meisten seiner Kumpels, insbesondere Chris, Lisa und Emma. Mit ihnen hängt er auch in der Freizeit oft zusammen, sie machen gemeinsam viel Sport, joggen, schwimmen, fahren Rad oder Ski, je nach Jahreszeit. Seit sie die neue Lehrerin für Wirtschaft und Sport haben, ist der Sportunterricht in der Schule auch ganz ok.

Doch die nächsten zwei Wochen ist erst einmal das Berufspraktikum angesagt. Lisa und Chris haben sich für etwas Soziales entschieden, Kindergarten oder Altenheim, also genau weiß Ben das gar nicht. Emma hat einen Platz in einer Autowerkstatt gefunden, das war ihr Traum sozusagen. Und auch für Ben hat sich sein Wunsch erfüllt: Er kann bei einem Freund seines Vaters in dessen Marketingfirma seine Medienkenntnisse unter Beweis stellen. Er hofft natürlich, dass er sich erst einmal nicht blamiert und – wenn alles gut geht – von den Profis dort einiges dazulernt. Computer haben ihn schon von klein auf fasziniert. Kein Wunder, sein Vater ist davon ja genauso begeistert und hat mit ihm schon viele Computerspiele gespielt, ihm aber auch die ersten Programmierkenntnisse beigebracht und einen Computer für ihn gekauft. In der Schule hat er in diversen Kursen sein Wissen vertieft. Insbesondere das Programmieren der Lego-Roboter fand er cool. Von seinen Freizeitaktivitäten hat er hin und wieder kleine Videoschnipsel produziert, die bei seinen Freunden und in der ganzen Klasse bald recht beliebt waren. Mit der Zeit hat er sich aber auf die Erstellung und Bearbeitung von Video und später auch von Audio spezialisiert.

Das Praktikum läuft gut an. Sie erstellen Werbevideos für verschiedene Produkte, von Kosmetika über Stühle und Fahrräder bis hin zu Mode. Schon nach einigen Tagen ist Ben voll im Geschäft und kann die Profis in der Firma unterstützen. Es macht ihm großen Spaß, und die Belegschaft ist ganz begeistert von seinen Ideen und seinem kompetenten Umgang mit den wichtigsten Video- und Audioschnitt-Programmen. Die zwei Wochen vergehen wie im Flug, und er kann sich vorstellen, später einmal in dieser Branche zu arbeiten. Die Gelegenheit kommt schneller als er denkt: Am Ende des Praktikums fragt ihn der Chef der Firma, ob er sich vorstellen könnte, neben der Schule Werbevideos für Sportklamotten zu erstellen. Die Sportklamotten würde er ihm zur Verfügung stellen, und die könnte er auf jeden Fall behalten. Viel Geld kann er ihm zusätzlich zu den Klamotten erst einmal nicht geben, das käme aber dann schon mit den Followern und dem gesteigerten Verkauf der Klamotten. Die Klamotten könne man nicht in Läden kaufen, der Verkauf sei nur über das Internet möglich, und mit seinen Werbevideos kann er sicher zu einer besseren Vermarktung beitragen. Schließlich entsprächen seine virtuellen Freunde genau der Zielgruppe des Herstellers.

Ben sagt sofort zu, und in den nächsten Wochen beschäftigt er sich hauptsächlich mit Werbevideos für die Sportklamotten. Er hat sich entschieden, die kurzen Clips im Internet zu veröffentlichen. Ideen hat er genug, auch während des Unterrichts denkt er viel darüber nach und skizziert seine Vorstellungen. Emma und Chris sind begeistert von den Clips, und seine Fangemeinde wächst recht schnell. Waren es anfangs nur die Schulkameraden und deren Freunde, so erhält er doch bald Feedback von ihm völlig fremden Menschen. Insgeheim ist er schon ein bisschen stolz auf sich, dass seine Werbeclips so gut ankommen und er als Influencer die Vermarktung der Sportklamotten vorantreibt. Auch dass er damit sein Taschengeld aufbessern kann, findet er toll.

Er steckt immer mehr Zeit in die Erstellung der Videos. Natürlich bleibt das seinen Freunden nicht verborgen, für die er immer weniger Zeit hat. Auch die Leistungen in der Schule gehen stark zurück. Insbesondere Lisa ist das aufgefallen.

An einem Morgen, an dem er wieder einmal im Unterricht eingeschlafen war, weil er die halbe Nacht an einem Video gebastelt hat, spricht sie ihn darauf an. Sie fragt ihn, wie viel Geld er wirklich mit diesem Marketing verdient und redet ihm ins Gewissen. Es sei doch kurzsichtig, die Schule für so viel Arbeit und so wenig Geld derart zu vernachlässigen. Außerdem solle er die Sportklamotten, für die er Werbung macht, doch mal selbst ausprobieren. Vor lauter Arbeit sei er selbst gar nicht mehr zu Sport gekommen. Dann würde er schon sehen, dass die nichts taugen und nach dem ersten Waschen wie Lumpen aussehen. Die seien ihr Geld wirklich nicht wert, bei Sports4You um die Ecke würde man für weniger Geld wesentlich bessere Ware erhalten. Und die könnte man vorher anfassen und auch anprobieren. Sie sei auch schon mal auf andere Influencer reingefallen und habe teure Schminke gekauft, die nichts getaugt hat.

Ben ist erst einmal schockiert und verteidigt seine Arbeit. Lisa würde das ganz falsch sehen, und die Klamotten, für die er Werbung macht, seien echt gut. Emma und Chris bestätigen ihn in seiner Meinung und ermuntern ihn, auf jeden Fall weiterzumachen. Nach einiger Zeit dämmert ihm aber, dass er irgendwie ausgenutzt wird. Nachdem er nun auch mehrmals selbst beim Joggen und Radfahren die Sachen getragen hat, fällt ihm auch auf, dass die nach dem Waschen nach nichts mehr aussehen. Nun drückt ihn das schlechte Gewissen, dass er seinen Freunden Geld für schlechte Ware abgeknöpft hat. Er fragt sich, wie er aus dieser Nummer wieder mit Anstand herauskommt.

Lisa, die sich noch mehr Sorgen um ihn gemacht hat, fragt die Wirtschaftslehrerin um Rat. Die ist sofort für die Idee zu haben, die Fragen von Marketing, schlechter Ware und der Verantwortung von Influencern in ihren Unterricht einzubauen. Schnell entsteht ein Projekt zum Thema „Influencer-Marketing“: Nachdem die Schülerinnen in Kleingruppen ihren Lieblings-Content-Creator in Kurzvorträgen vorgestellt und in diesem Zusammenhang von ihren – begünstigt enttäuschenden – Erfahrungen mit von Influencern beworbenen Produkten berichtet haben, klärt die Lehrerin die Lerngruppe anhand der von den Schülern präsentierten Influencer darüber auf, dass ihre Vorbilder durch Kooperationen mit Online-Firmen durch Produktplatzierungen und Werbelinks unter Bildern und Storys teils utopische Summen verdienen. Das geht nicht zuletzt auf Kosten ihrer Follower, da die Produkte zumeist minderwertig und fast ausnahmslos überteuert sind. Ben findet in den Erläuterungen seiner Lehrerin Parallelen zur Vorgehensweise, die ihm von seiner Praktikumsfirma ans Herz gelegt wurde. Schon im Verlauf der Unterrichtseinheit bleibt der Lehrerin Bens Betroffenheit nicht verborgen. Nach Unterrichtsschluss sucht sie das Gespräch mit ihm und bietet ihre Hilfe bei der Klärung der Angelegenheit an.

Fragen

  1. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Inwiefern können in sozialen Medien präsentierte Bilder und Kurzclips ein realistisches Abbild der Realität sein?
  2. Ist es moralisch zu rechtfertigen, ein minderwertiges Produkt zu bewerben, um sein persönliches Einkommen damit zu sichern?
  3. Ist es moralisch zu vertreten, dass Marketingfirmen insbesondere Jugendliche für einen derartigen Vertrieb anwerben?
  4. Was ist davon zu halten, dass Firmen gezielt Schülerinnen für ihre Werbezwecke missbrauchen? Und dies auf Kosten der schulischen Leistungen.
  5. Sollte man den Schülern nicht auch gönnen, ihre digitalen Fähigkeiten in ein kleines Taschengeld umzusetzen?
  6. Inwiefern wiegt das Geld sowohl für die Marketingfirmen als auch für die Influencer mehr als die Moral?
  7. Soll die Schule weiterhin Praktika mit dieser Marketingfirma befürworten oder gar fördern?

Erschienen im Informatik Spektrum 45 (4), 2022, S. 262–264, doi: https://doi.org/10.1007/s00287-022-01463-2

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