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Fallbeispiel: Analog/Digital-Graben

Debora Weber-Wulff, Stefan Ullrich

Matthias und Melanie haben sich schon im Studium kennengelernt. Matthias hat Medizin studiert, Melanie Informatik. Sie haben sich bei der universitären Gremienarbeit kennengelernt und sind bald zusammengezogen. Matthias  arbeitet nach seinem Studium aus Idealismus im öffentlichen Gesundheitsdienst. Melanie hat einen guten Job als Software-Ingenieurin, also haben sie keine Geldsorgen.

Seit Anfang der Corona-Pandemie ist Melanie im Home Office, aber Matthias hat immer mehr im Amt zu tun. Die schiere Menge an Fällen – und der ganze Papierkram drum herum – scheint ins Unendliche zu wachsen. Matthias tut, was er kann, aber es bleibt immer viel liegen. Er ist sehr frustriert darüber, wie langsam alles geht. Die Leute müssen doch schnell wissen, ob sie infiziert sind oder nicht. Er unterstützt sogar die medizinisch-technischen Assistentinnen und Assistenten und verbringt mehrere Stunden in Schutzkleidung, um Proben zu nehmen. Er und das ganze Team müssen höllisch aufpassen, die Formulare leserlich auszufüllen. Das erfolgt mit einem blauen Stift – digital ist nur der QR-Code auf dem Aufkleber, den sie oben anbringen müssen. Die Proben werden zu verschiedenen Laboren geschickt, es dauert dann aber Tage, teilweise Wochen, bis die Ergebnisse verarbeitet wurden und die Infektionskette zurückverfolgt werden kann.

Matthias beschwert sich über diese langsamen Abläufe eines Abends, als er mit Melanie auf dem Balkon bei einem Glas Wein sitzt. Melanie versteht nicht, was das Problem ist, warum es so lange dauert. Die Tests selber sind doch in wenigen Stunden durch, die Labore arbeiten inzwischen im Drei-Schicht-Betrieb. „Was ist das Problem?“, fragt sie. „Ich kann dir das leider nicht so genau sagen, die Abläufe und alles, was auf dem Amt passiert, unterliegen sehr strenger Geheimhaltung“. Seine Referatsleitung hat ihm immer wieder gesagt: Alles was im Amt passiert, bleibt im Amt.

„Sei nicht albern“, sagt Melanie. „Ich will nicht wissen, wer getestet worden ist oder das Ergebnis. Ich will nur verstehen, wie euer Laden läuft und warum es so lange dauert, bis ihr Ergebnisse habt. Ich bin doch Spezialistin in Prozessoptimierung, vielleicht kann ich helfen.“ Matthias gießt sich noch etwas Wein ein und beginnt zu erzählen. „Lach mich nicht aus“, sagt er, „und bitte nicht twittern. Jedes Labor hat andere Formulare für die Beauftragung und die Ergebnisse. Um die Aufträge gleichmäßig zu verteilen, wechseln wir die Labore regelmäßig. Und weil wir vor Ort nichts Digitales haben, füllen wir die Formulare mit der Hand aus. Mit blauer Tinte, das ist unserer Verwaltung wichtig, damit es von der Schwarz-Weiß-Kopie unterschieden werden kann. Proben und Formulare kommen in eine Post-Box, und wenn das Kästchen mit Proben voll ist, werden die Proben mit den Formularen von einem Boten zum Labor gebracht.“

„Na, das ist doch eine gute Notlösung, wäre natürlich schöner, wenn das alles gleich digitalisiert wäre, aber okay. So was kostet Zeit. Was macht das Labor mit den Ergebnissen?“ fragt Melanie.

„Sie tippen die Daten aus der Anforderung ab in ihr Befunde- und Abrechnungssystem, tragen die Ergebnisse ein, und faxen sie dann zurück an das Gesundheitsamt.“

„Faxen?!“ Melanie prustet. „In Ordnung, ich denke, wir kommen dem Problem schon näher“, scherzt sie.

„Das ist gar nicht so doof, denn das sind personenbezogene Daten. Sie sollen nicht über das Internet versendet werden.“ „Na gut, man kann es aber auch übertreiben. Ich kaufe euch ab, dass keiner das schafft, eine Verschlüsselungsinfrastruktur aufgebaut zu haben. Noch dazu für die Kommunikation mit Externen. Aber dann ist doch alles gut, dann habt ihr am nächsten Tag die Ergebnisse … als Fax!“

„Nein, so einfach ist es nicht. Der Computer, der bei uns die Faxe entgegennimmt, speichert sie als Datei mit dem Namen ,Telefax.pdf‘ ab. Immerhin werden sie durchnummeriert, aber wir haben mehrere tausend Dateien, die so heißen – täglich! Da sitzt also jemand und benennt die Dateien um, damit wir sie zuordnen können. Diese Person muss also die Datei öffnen, schauen, wie das Aktenzeichen heißt, und ob das Ergebnis positiv oder negativ ist. Die Dateien werden dann in unterschiedlichen Verzeichnisse abgelegt, je nach Ergebnis. Naja, und manchmal passiert bei der manuellen Umbenennung oder Sortierung eben ein Fehler und wir müssen bei den Laboren dann nachfragen. Jetzt, wo wir so viele Tests am Tag haben, merken wir erst, wie lange die manuelle Datenverarbeitung dauert. Hier..“, er unterbricht sich, „bricht gerade alles zusammen.“

Melanie kann kaum glauben, was sie hört. „Das ist nicht dein Ernst! Was für einen Rechner mit welcher Software setzt ihr da ein?“ „Ich weiß es nicht so genau, aber der darf  nicht am Internet angeschlossen werden, da sein Betriebssystem so alt ist. Aber zum Fax-Empfang taugt er eigentlich gut genug, wenn wir gerade keine Pandemie haben“, antwortet Matthias.

Melanie schüttelt den Kopf. „Mensch, geht doch zum Megamarkt und kauft euch ein aktuelles Faxgerät, die können Dateien auch gleich weiter an eure PCs schicken, selbst wenn ihr im Home Office seid. Und kauft OCR-Software dazu, dann können die Ergebnisse gelesen und entsprechend abgelegt werden! Die Maschine macht im Gegensatz zum Menschen keine Fehler!“

„Naja, wir dürfen keine selbst gekauften Geräte einsetzen. Es muss alles über die Beschaffungsstelle und die IT gehen, es muss so ein Dings mit Datenschutz geben, ich weiß nicht wie es heißt, und noch eins mit medizinischer Sicherheit. Außerdem muss es Schulungen geben. Das dauert mindestens sechs Monate, bis so was durch ist, oft länger!“

Melanie meint nach einem weiteren großen Schluck Wein: „Weißt du was, wir beide kaufen so ein Gerät und ich richte es übers Wochenende ein. Eigentlich bin ich sehr teuer, aber das mache ich sogar kostenlos. Ich will, dass die Tests schneller durchgehen! Du musst ja auch regelmäßig getestet werden, und ich will, dass du schnell weißt, wenn du angesteckt worden bist. Na?“

Matthias ist sehr unsicher, ob er auf das Angebot eingehen soll. Es ist verlockend und hört sich wirklich einfach an, wie Melanie das beschreibt.

Fragen

  1. Ist es nötig, dass allgemeine Abläufe auf dem Amt der Geheimhaltung unterliegen?
  2. Kann in solchen Ausnahmezeiten ein moralischer Grund vorliegen, diese Geheimhaltung zu brechen?
  3. War es in Ordnung, dass Matthias Melanie über die Abläufe im Amt eingeweiht hat?
  4. Ist etwas daran auszusetzen, dass das Labor die Ergebnisse an das Gesundheitsamt faxt?
  5. Würde es in moralischer Hinsicht einen Unterschied machen, wenn die OCR-Software einen Fehler macht – im Gegensatz zu einem menschlichen Benennungsfehler?
  6. Ist Melanie zu sorglos im Umgang mit vernetzten Geräten?
  7. Matthias hat sich freiwillig zu Mehrarbeit verpflichtet auf Kosten der gemeinsamen Familienzeit. Wie ist dies in moralischer Hinsicht zu bewerten?
  8. In den meisten Städten werden nur die positiven Fälle vom Labor an das Amt übermittelt. Ändert dies etwas an Ihrer Einschätzung der Situation?

Erschienen im Informatik Spektrum 43 (5), 2020, S. 352–353, doi: https://doi.org/10.1007/s00287-020-01308-w

 

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