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Fallbeispiel: Karins Dilemma

Freundliche Angebote?

Karin freut sich. Professor Mews hat sie persönlich darauf angesprochen, dass bei der zweitägigen Exkursion zu einigen SAP-Anwendern ein Platz frei geworden sei, den er ihr reserviere, falls sie gleich zusage. Sie braucht diesen Exkursionsschein (ein Nachweis des „Praxisbezugs unseres Studiums“), um ihre Abschlussarbeit anfangen zu können. Bei Professorin Silber, die eine ähnliche Exkursion im letzten Semester anbot, hatte sie keinen Platz erhalten.

Abends trifft sie Professor Mews zufällig am Ausgang des Informatikgebäudes, und er spricht sie auf die Exkursion an. Sie sagt ihm, wie erleichtert sie ist. Dabei kommen sie ins Gespräch über die problematischen Studienbedingungen. Mews ist Vorsitzender der Prüfungskommission; er weiß um viele Missstände und gibt ihr bei den meisten Punkten recht. Als das Gespräch länger dauert, lädt er sie „auf einen Kaffee“ in die gegenüberliegende Mensa ein. Da sie noch dringend zur Post muss, sagt sie ihm ab, bedauert aber, dass sie die Gelegenheit nicht nutzen konnte, einem Professor wenigstens einmal vor Ende ihres Studiums ehrlich ihre Meinung zur Studiensituation sagen zu können. Am Nachmittag sieht sie den Aushang mit der Exkursionsliste. Statt zwölf Teilnehmern wie beim letzten Mal sind es nur sieben; sie hätte also noch sehr gut einen Platz bekommen können. Nur Jungs – sie ist die einzige Frau. „Das kann ja heiter werden“, denkt sie.

Am kommenden Tag ergibt sich doch noch eine Gelegenheit zum Gespräch. Mews steht am Saaleingang der Vorlesung von Professor Strunz und passt sie ab. Er habe jetzt schon alles für die Exkursion gebucht. Er fahre auch den Kleinbus, und man könne sich ja dann nebeneinander setzen, so könne man vieles besprechen. Am Tag der Exkursion begrüßt sie Professor Mews laut und weist auf den Platz neben sich, doch irgendwie ist es ihr nicht geheuer, sich direkt neben ihn zu setzen. So setzt sie sich lieber neben Jürgen, mit dem sie bereits öfter zu tun hatte. Im Hotel angekommen, werden die Zimmer verteilt. Sie als Frau hat ein Einzelzimmer, den anderen werden drei Doppelzimmer zugewiesen. Ihr Zimmer ist in einem anderen Stockwerk, „direkt neben meinem“, wie Professor Mews locker fallenlässt. Die Jungs grinsen. Ihr ist das peinlich.

Nach dem Abendessen wird die erste Besprechung angesetzt. Alle müssen eine Arbeit über die Firmenbesuche schreiben, wobei jeder ein spezifisches Thema hat. „Für unsere Prinzessin“, sagt Prof. Mews, „hab ich ein besonderes Thema ausgewählt.“ Nachdem alle ihr Thema haben, wendet sich Mews Karins Kommilitonen zu und sagt: „Sie können schon mal einen Zug durch die Gemeinde machen, wenn Sie wollen. Wir beide besprechen Karins Thema dann hier noch in Ruhe.“ Er wendet sich Karin zu: „Hier in dem Raum ist es recht zugig. Wir könnten auch in mein Zimmer gehen, dort gibt es eine Sitzgruppe mit einem großen Tisch.“ Karin antwortet irritiert: „Ich möchte jetzt mein Thema wissen – wie die anderen.“ Die Kommilitonen haben sie mit Mews allein gelassen, der ruhig zu ihr sagt: „Stellen Sie sich nicht so an. Was haben Sie denn gegen mich? Ich bin doch ein netter Kerl. Es ist doch nicht so schwer, nett zu sein und die Exkursion zu genießen.“ Und er fügt hinzu: „Gegen mich zu arbeiten funktioniert sowieso nicht, da haben sich schon andere die Zähne ausgebissen.“

Karin weiß nicht mehr, was sie sagen soll. Sie steht auf und geht in ihr Zimmer, doch die Nacht über kann sie lange nicht einschlafen, weil sie überlegt, was sie wohl falsch gemacht hat und ob sie nicht besser abreisen sollte. Das wäre freilich sehr demonstrativ und würde vermutlich im Institut herumgetratscht. Nach unruhigem kurzem Schlaf entschließt sie sich morgens, doch nicht abzureisen. Als sie in den Frühstücksraum kommt, fällt ihr ein, dass die anderen ja eigentlich nichts mitbekommen haben. Sie setzt sich an einen kleinen Tisch, der nur zwei Stühle hat. Mews steht auf und setzt sich ihr gegenüber. Einen Moment lang denkt sie, er wolle sich vielleicht entschuldigen, doch er sagt mit gepresster Stimme: „Wir wollen ihre Zicken mal vergessen. Ich hab Ihnen hier Ihre Aufgabe notiert – geben Sie sich etwas Mühe, sonst seh’ ich schwarz. Aber vielleicht besinnen Sie sich ja noch. Sie können immer noch kooperieren. Es liegt in Ihrer Hand.“

Vier Wochen später gibt sie ihre Arbeit ab; sie hat sie mit zwei Kommilitonen zusammen erarbeitet. Die drei Arbeiten sehen recht ähnlich aus, wobei sie ihre natürlich an die abweichende Fragestellung anpassen musste. Aber alle drei sind letztlich der Ansicht, dass sie ganz gute Arbeiten geschrieben haben. Nach weiteren vier Wochen hängen die Ergebnisse mit den Matrikelnummern am Sekretariat von Mews aus. Ihre Note ist „mangelhaft.“ Karin ist wie vor den Kopf geschlagen. Als sie ihre Arbeit im Sekretariat abholt und durchsieht, findet sie die Korrektur sehr kleinlich und das Ergebnis ungerecht angesichts ihrer gründlichen Arbeit. Sie überlegt sich zu beschweren. Aber wo? Mews ist der Vorsitzende der Prüfungskommission. Da will sie bestimmt nicht hin. Sie geht zum Dekan Ströbel und erzählt ihm ihre Geschichte. Ströbel zeigt sich nach ihrem Bericht verständnisvoll und fragt sie, ob sie mit einer zweiten Begutachtung z. B. durch Professorin Silber einverstanden wäre. Sie sieht keinen anderen Ausweg und stimmt notgedrungen zu. Nach zwei Wochen erhält sie eine E-Mail vom Dekan, sie könne ihren Schein abholen; die Sache scheint noch einmal gut ausgegangen zu sein.

Doch fünf Wochen später erhält sie eine E-Mail, die von Professor Mews an alle Fakultätsmitglieder, auch die Studierenden, gegangen ist: „Offener Brief über einige rufschädigende Gerüchte zu meiner Person.“ Dort wird beschrieben, dass Karin und einige weitere Studentinnen unzutreffende Verleumdungen über ihn behaupteten und dass er sich „leider” gezwungen sieht, einen Strafantrag wegen Verleumdung bei der Staatsanwaltschaft zu stellen.

Karin ist erschüttert. Nachdem sie sich mit verschiedenen Kommilitonen und der Fachschaft beraten hat, geht sie erneut zum Dekan. Der versucht sie zu beruhigen, hat aber keine Ahnung über den Stand des angekündigten Verfahrens. Er gehe davon aus, dass das Ganze im Sande verlaufen wird und es vermutlich gar keine Anzeige gibt. „Der Kollege ist eben etwas cholerisch. Das wissen wir doch. Sie müssen halt auch seine Situation verstehen.“ Nach Beratung und mit Hilfe der Frauenbeauftragten beschwert sie sich bei der Universitätsleitung, die verspricht, der Sache nachzugehen.

Letztlich schreibt sie weiter an ihrer Abschlussarbeit. Die Konzentration auf die Arbeit fällt ihr freilich schwer. Drei Wochen vor Abgabetermin erhält sie ein Schreiben der örtlichen Polizeidienststelle, in welchem sie im Namen der Staatsanwalt zu einer Stellungnahme aufgefordert wird. Sie will das zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht machen, aber beißt doch die Zähne zusammen und schreibt ihre Erlebnisse auf, wobei sie betont, dass sie eigentlich das Opfer einer Verleumdung ist. Trotz dieser äußeren Störung kann sie die Arbeit fristgerecht beenden. Ihre Konzentration wird belohnt. Sie erhält eine gute Note und direkt nach Aushändigung des Zeugnisses ein interessantes Stellenangebot, das sie gern annimmt.

Zehn Monate nach ihrer Abschlussfeier erhält Karin einen Brief der Staatsanwaltschaft, in dem ihr kurz mitgeteilt wird, dass das Ermittlungsverfahren gegen sie eingestellt ist; drei Wochen später kommt ein Brief der Universitätsleitung, dass man die Sache mangels nachprüfbarer Aussagen nicht weiter verfolge.

Fragen

In diesem Szenario werden verschiedene Fragestellungen aufgeworfen. Es berührt ethische Fragen ebenso wie rechtliche Aspekte.

  • Hat Karin überreagiert?
  • Hat Professor Mews überreagiert?
  • Was hätte Karin zu welchen Zeitpunkt machen können oder sollen?
  • Wer ist eigentlich verleumdet worden?
  • Wie hätten sich die Kommilitonen von Karin verhalten sollen?
  • Darf Karin sich einfach zurückhalten, weil sie nun nicht mehr an der Universität ist? Macht sie sich dann nicht mitschuldig, wenn andere Studentinnen in eine ähnliche Lage kommen werden und dann noch nicht einmal beim Dekan Unterstützung finden können?
  • Sollte sie anonym veröffentlichen, wie sich Professor Mews verhalten hat?
  • War Professor Mews vielleicht im Recht, und Karin hat sich nur etwas eingeredet?

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