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Fallbeispiel: Virtual Reality

Stefan Ullrich & Constanze Kurz

Frank hat gerade seine Studentenzeit hinter sich gelassen und den ersten Job angetreten. Er arbeitet bei einem großen Konzern, der unter anderem Virtual-Reality-Systeme verkauft. Er hatte sich dort schon als Informatikstudent im Praktikum bewährt und eine Stelle als Junior Developer angeboten bekommen.

Henriette ist ebenfalls Informatikerin und seine Vorgesetzte, Frank kennt sie vom Praktikum. Die beiden und drei Mitstreiter adaptieren Programme für ein großes VR-System, das vor allem an Fitness-Studios und gehobene Hotelketten vermarktet wird. Sie sind ein junges Team, keiner hat sein Studium vor mehr als drei Jahren abgeschlossen.

Das VR-System ähnelt einem Fitness-Gerät, das es so auf dem Markt von keinem Konkurrenten gibt. Es besteht aus einem beweglichen Aluminium-Gestell mit Gurten, in das sich der Nutzer bäuchlings hineinlegt und anschnallt. Der gesamte Aufbau benötigt eine Stellfläche von etwa sechs Quadratmetern. Dazu gehört eine VR-Brille für den Kopf und verschiedene Knöpfe an beiden Händen. Das bewegliche Gestell ist informationstechnisch mit der Brille verbunden und bewegt sich passend zum abgespielten Programm, was eine bislang unerreicht hohe Immersion erzeugt.

Man kann beispielsweise damit virtuell einen Flugdrachen steuern und dabei mit Trainingsstufen unterschiedliche Muskeln trainieren oder einfach den Ausblick genießen.

Henriette und Frank entwickeln mit den anderen derzeit eine Software, die erstmals ein First-Person-Shooter-Spiel für das System anpasst. Der Nutzer fliegt in einem futuristischen kleinen Raumschiff und jagt im Weltall böse Aliens, auf die er schießen kann.

Das neue Spiel steht vor der Demo-Phase, die im Konzern traditionell von einem anderen Team durchgeführt wird. Alle sind aufgeregt, als die Tester des fremden Teams zur ersten Demonstration kommen, und sehr erleichtert, dass es einigermaßen glattläuft. „Krass!“ sagt Michelle, „das war wahnsinnig spannend!“ Sie ist eine der Testerinnen, selbst Programmiererin und leidenschaftliche Gamerin. Es gab ein paar Fehler, die jetzt auszubügeln sind, aber nichts Gravierendes. Die zweite Demo-Phase ist in zwei Wochen angesetzt.

Am Tag nach der zweiten Demo-Phase trifft sich Frank mit Michelle. Die beiden haben sich ein wenig angefreundet während des Testens und der Fehlersuche. Frank ist verwundert darüber, dass Michelle in der zweiten Testphase nicht mehr dabei war. Da scheint etwas nicht zu stimmen. Er fragt Michelle, was los sei. Sie wehrt erst ab, möchte nicht darüber reden, aber Frank lässt nicht locker. „Alpträume!“, bricht es auf einmal aus Michelle heraus. Frank blickt sie erschrocken an: „Von der virtuellen Alienjagd?“ Michelle erklärt dem erstaunten Frank, dass es sei, als wären die Bilder der explodierten Raumschiffe direkt in ihrem Kopf. Besonders schlimm seien aber die Szenen auf dem Planeten, wo die Aliens von oben erschossen werden. Man könne sich dem ja nicht entziehen, man müsse das mit ansehen, wenn man das Spiel nicht vorzeitig beenden will. Diese Bilder werde sie einfach nicht mehr los und habe den Eindruck, sie seien in ihrem Kopf festgefroren. Sie könne nicht mehr schlafen.

Frank hat sowas noch nie gehört, dass eine virtuelle Realität jemanden so mitnehmen kann, Stunden oder Tage nach Benutzung des Systems. Umgehend informiert er die betroffenen beiden Teamleiter über Michelles Alpträume, denn er fühlt sich dazu verpflichtet.

Henriette wirkt wenig überrascht: „Einen ähnlichen Fall hatten wir mit dem Flugsimulator vor neun Monaten“, sagt sie. Gleich zwei der Tester hätten von Panikattacken berichtet, sie mussten das Team wechseln. Es sei eben eine sehr realistische Darstellung, das sei ja gerade das Ziel ihrer Arbeit.

Henriette entschließt sich nach kurzer Diskussion mit beiden Teams dazu, keine direkten Testaufgaben mehr von Personen durchzuführen zu lassen, die „allzu empfindlich“ sind.

Fragen

  • Wie ist es ethisch zu bewerten, dass Frank selbständig die Entscheidung trifft, beiden Teamleitern von Michelles Alpträumen zu erzählen?
  • Ist es ein Problem, wenn Michelle wegen sehr „realistischer“ Darstellungen emotional mitgenommen ist? Ist das nur ein Einzelfall? Müsste das zuerst erforscht werden, bevor man das Spiel zum Verkauf anbietet?
  • Wie sieht es mit der Herstellerfirma aus – hat sie ethische Verpflichtungen bei der Programmierung oder Implementierung des VR-Systems hinsichtlich Gewaltdarstellungen? Wieviel Entscheidungsfreiheit soll der Hersteller den Nutzern geben, welche Inhalte sie ansehen müssen, um weiterspielen zu können?
  • Michelle begibt sich in ein First-Person-Shooter-Spiel, müsste sie nicht wissen, dass sie dort Gewalt und sterbende Aliens erwarten? Macht es einen Unterschied, dass sie nicht freiwillig spielt, sondern das Testen Teil ihres Berufes ist?
  • Würden sich ethische Fragestellungen ergeben, wenn die Nutzer des VR-Systems explizit gewarnt würden? Inwiefern machte das einen Unterschied? Wie allgemein oder spezifisch sollten die Warnungen sein?
  • Kunden nutzen das VR-System sowohl geschäftlich als auch privat. Kann die Art des angebotenen Programms ein ethisches Problem sein, wenn man es arglosen Dritten zur Verfügung stellt?
  • Wie ist es insgesamt zu bewerten, wenn explizite Gewaltdarstellungen durch hohe Immersion quasi im Kopf eines Nutzer generiert werden, selbst wenn er das vorher weiß?
  • Wie sollte sich Frank verhalten, wenn er das Gefühl hat, nicht genug über die psychologischen Folgen der Systeme zu wissen, an denen er entwickelt?
  • Ist Michelles Abneigung dem VR-System gegenüber ihrer speziellen Persönlichkeit zuzurechnen oder muss das Problem generell betrachtet werden?
  • Hätte Henriette die Tester vorher auf die Möglichkeit von Alpträumen hinweisen müssen?
  • Was unterscheidet denn Gewaltdarstellungen in einem VR-System von anderen Gewaltdarstellungen, etwa in Spielen oder in Filmen?
  • VR-Systeme werden seit einigen Jahren in der Trauma-Therapie eingesetzt, dabei wird ausgenutzt, dass die Immersion sehr hoch ist. Sollten sich Hersteller damit beschäftigen, dass durch solche Systeme auch Traumata entstehen können?

Erschienen im Informatik-Spektrum 40(2), 2017, S. 223-224.

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