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Fallbeispiel: Wenn Wissen zur Waffe wird

Carsten Trinitis und Anton Frank

Informatik bewirkt viel Gutes, sie kann aber auch zur Waffe werden. Gerade bei der Wahl des Arbeitgebers stellen sich daher schwierige moralische Fragen.

Johanna studiert an einer renommierten süddeutschen Universität und hat gerade ihre Masterarbeit im Fach Informatik erfolgreich verteidigt. Darin hat sie sich mit dem Thema automatische Bilderkennung unter schlechten Wetterbedingungen mithilfe von maschinellem Lernen beschäftigt.

Weil sie von ihren Eltern seit ihrer Kindheit zu einem sorgsamen Umgang mit der Natur erzogen wurde, freut sie sich voller Euphorie darauf, das in Studium und Masterarbeit erworbene Wissen im Bereich des Umweltschutzes einsetzen zu können. Hierzu ist sie bereits in Kontakt mit einem Start-up, das sich auf die Früherkennung von Waldschäden mithilfe von automatischen, KI-gesteuerten Drohnen spezialisiert hat.

Kürzlich hat Johanna allerdings noch ein äußerst lukratives Jobangebot einer Firma aus dem süddeutschen Raum erhalten, die sich auf Bilderkennung und automatische Steuerung von militärischen Drohnen spezialisiert hat. Auch wenn die Aufgabe sehr reizvoll klingt und inhaltlich sehr eng mit ihrer Masterarbeit verbunden ist, verwirft sie dieses Angebot sofort, da sie aus einem pazifistischen Elternhaus stammt. Ihre Eltern haben bereits in den Achtzigern mit prominenten Mitgliedern der Friedensbewegung demonstriert. Sie würden bestimmt nicht mehr mit ihr reden, wenn sie einen Job in der Rüstungsindustrie annehmen würde!

Auf der Abschlussfeier ihres Semesterjahrgangs lernt Johanna ihren Kommilitonen Volodymyr kennen, der seit zwei Semestern an ihrer Universität studiert. Er zeigt sich sehr interessiert an ihren Forschungen, weil er sich ebenfalls auf dieses Thema spezialisieren möchte und sich in einem Praktikum bereits mit dem militärischen Einsatz von Drohnen beschäftigt hat. Volodymyr musste nach fünf Semestern seine Universität verlassen, da sein Heimatland vom Nachbarland angegriffen wurde und kein regulärer Lehrbetrieb mehr möglich war. Er lädt Johanna ein, zum wöchentlichen Stammtisch seiner geflüchteten Landsleute zu kommen.

Dort lernt sie Julija und Oleksandr kennen, die ihr von der Situation ihrer Familien und den Gefahren, denen die Familien der geflüchteten Landsleute immer noch ausgesetzt sind, erzählen. Das unsägliche Leid und die Gefahren des dort herrschenden Konflikts werden realer und bekommen für Johanna langsam Namen und Gesichter. Im Laufe des Abends sieht sich Johanna zunehmend mit dem Vorwurf konfrontiert, dass ihr Land nicht genügend Unterstützung leiste, auch im militärischen Bereich. Ihre pazifistische Argumentation stößt auf taube Ohren, und man erläutert ihr ausführlich, wie viel weniger Leid doch entstehen würde, wenn das überfallene Land mit entsprechender Aufklärungs- und Abwehrtechnik ausgestattet wäre.

Da kommt Johanna das bereits verworfene Angebot der Militärtechnikfirma wieder in den Sinn. Als sie nach langem Zögern schon darüber nachdenkt, den anderen davon zu erzählen, stößt Alexej zu der Runde. Auch er musste kürzlich aus seinem Heimatland fliehen – dem Land, das das Heimatland von Volodymyr angegriffen hat. Alexej musste jedoch fliehen, weil er versucht hat, der dortigen LGBT-Community eine Stimme zu geben. Er erzählt von seinen Eltern, die im Grenzgebiet wohnen und dass dort erst kürzlich eine abgeschossene Drohne das Haus der Nachbarn zerstört und den Familienvater getötet hat. Nach einer kurzen Verabschiedung geht Johanna sichtlich verstört nach Hause. Sie durchsucht ihr Postfach nach der Mail mit dem Jobangebot und liest es sich noch mal durch. Bei ihr machen sich Ratlosigkeit und Verzweiflung breit.

Anmerkung der Autoren: Wir möchten ­klarstellen, dass viele der gestellten Fragen auch politisch beantwortet werden können. Uns geht es hier aber einzig und allein um die ethische Dimension dieser Fragen.

Fragen:

  • Soll Johanna sich an ihren Eltern orientieren und konsequent ablehnen, an militärischen ­Produkten zu arbeiten?
  • Reicht es aus, die eigene Forschung in den Dienst des Umweltschutzes zu stellen, um ein reines ­Gewissen zu haben?
  • Wie soll sich Johanna ihrem Kommilitonen gegenüber verhalten? Ist es richtig, ihre Forschungsarbeiten mit ihm zu teilen, auch wenn es ihm ermöglicht, sie für militärische Zwecke einzusetzen?
  • Ist die militärtechnische Hilfe zum Schutz der ­Menschen in Volodymyrs Heimatland gerechtfertigt, auch wenn diese Alexejs Eltern potenziell gefährdet?
  • Ist es in diesem Fall doch besser, alles Erdenkliche zu tun, um dem überfallenen Land zu helfen?
  • Wie weit soll diese Hilfe gehen – humanitär, ­militärisch, …?
  • Wie ist eine Technologie ethisch zu bewerten, die zwar primär der Verteidigung und damit dem Schutz von Menschenleben dient, trotzdem aber auch dazu führen kann, dass Menschen getötet werden?
  • Wäre die Erforschung militärtechnischer Lösungen zu rechtfertigen, wenn Johanna sicherstellen kann, dass solche Drohnen ausschließlich zur Verteidigung und nicht zum Angriff genutzt werden können?
  • Ist Forschung an Gütern mit doppeltem ­Verwendungszweck (dual use goods) wegen einer möglicherweise missbräuchlichen Verwendung ­grundsätzlich abzulehnen?

Erschienen in .inf 03. Das Informatik-Magazin, Herbst 2023, https://inf.gi.de/03/gewissensbits-wenn-wissen-zur-waffe-wird

2 comments to Fallbeispiel: Wenn Wissen zur Waffe wird

  • Anke

    Es genügt allein, dass das Wissen in der Welt ist. Irgendwer wird es IMMER für Macht und gegen Menschen einsetzen. Dies zu verhindern ist – glaube ich – bisher weder Wissenschaft noch Politik gelungen.
    Ist das ein Grund, die Wissenschaft nur den anderen zu überlassen? Ich denke nein!
    Das eigene Wissen für möglichst viele zivile Zwecke nutzbar zu machen ist wohl die beste Lösung, den Rest wird man nicht verhindern können.

    Militärische Unterstützung – oder unterlassene Hilfeleistung?
    Es muss möglich sein, sich gegen einen Agressor zu wehren. Sonst gilt nur noch das Recht des Stärkeren.
    Welche Waffen und Methoden dafür zu rechtfertigen sind ist eine schwierige Frage, wie wir leider aktuell in Israel verfolgen können. Wenn auch das Nichtstun Menschenleben kostet, ist es dann zynisch, diese Aufgabe als Optimierungsproblem zu betrachten?

  • Es genügt allein, dass das Wissen in der Welt ist. Irgendwer wird es IMMER für Macht und gegen Menschen einsetzen. Dies zu verhindern ist – glaube ich – bisher weder Wissenschaft noch Politik gelungen.
    Ist das ein Grund, die Wissenschaft nur den anderen zu überlassen? Ich denke nein!
    Das eigene Wissen für möglichst viele zivile Zwecke nutzbar zu machen ist wohl die beste Lösung, den Rest wird man nicht verhindern können.

    Militärische Unterstützung – oder unterlassene Hilfeleistung?
    Es muss möglich sein, sich gegen einen Agressor zu wehren. Sonst gilt nur noch das Recht des Stärkeren.
    Welche Waffen und Methoden dafür zu rechtfertigen sind ist eine schwierige Frage, wie wir leider aktuell in Israel verfolgen können. Wenn auch das Nichtstun Menschenleben kostet, ist es dann zynisch, diese Aufgabe als Optimierungsproblem zu betrachten?

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