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13 Jahre Gewissensbits: Wir ziehen um!

Christina B. Class, Wolfgang Coy, Constanze Kurz, Otto Obert, Rainer Rehak, Carsten Trinitis, Stefan Ullrich, Debora Weber-Wulff

Liebe Leserin, lieber Leser,

seit gut 13 Jahren, seit der 4. Ausgabe 2009 des Informatik Spektrums, haben wir 78 Fallbeispiele mit Fragen geschrieben, um uns alle zum Nachdenken zu bringen und mit Ihnen zu diskutieren – in der Kolumne Gewissensbits. Vorangegangen waren einige Jahre, in denen wir Fallbeispiele entwickelten und ein Buch schrieben.

Die Fachgruppe „Informatik und Ethik“ wurde im Dezember 2003 gegründet. Sie entstand aus dem Arbeitskreis „Informatik und Verantwortung“, der die Ethischen Leitlinien von 1994 überarbeitete. Diese zweite Version der Leitlinien wurde 2004 vom Präsidium der GI verabschiedet. Schnell einigten wir uns darauf, dass wir uns als Fachgruppe insbesondere auch um den Diskurs bemühen wollen. Bereits in den Leitlinien stand, dass die GI Diskussionen über ethische Fragen in der Informationstechnik initiieren und fördern wolle. Ausgehend von unseren Erfahrungen in der Lehre und dem Ansatz des Critical Thinking, der in den USA verbreitet ist, entwickelten wir über mehrere Jahre hinweg das Format der Gewissensbits.

2009 kam unser Buch („Gewissensbisse – Ethische Probleme der Informatik. Biometrie – Datenschutz – geistiges Eigentum“, tanscript Verlag) heraus und parallel dazu veröffentlichten wird im August 2009 die ersten Gewissensbits im Informatik Spektrum, ein Fallbeispiel namens „Biometrie“ [1]. Es behandelte die Nutzung von Fingerabdrücken zur Zahlung in einer Schulmensa und deren Nachnutzung, um den Diebstahl zweier Beamer aufzuklären.

In unserem Blog veröffentlichten wir den Fall und luden zur Diskussion ein. Unter anderem wurde die Frage aufgeworfen, ob ein solches Szenario realistisch sei. „Kaum vorstellbar ist jedoch, daß ein Schuldirektor eine solch heikle Maßnahme (schon das Sammeln der Fingerabdrücke) auf seine Kappe nimmt bzw. dazu die Rückendeckung der Schulpolitiker erhält.“ [1]. Eine Recherche ergab, dass an einigen Schulen in Deutschland bereits zwei Jahre zuvor, 2007, die Bezahlung per Fingerabdruck eingeführt wurde (z. B. [2]). Wir schreiben bewusst „Recherche“! Die Fallbeispiele des Buchs wurden über mehrere Jahre entwickelt, getestet und überarbeitet. Als wir uns den Fall „Biometrie“ überlegten, wussten wir nichts davon, dass Schulen bald Fingerabdrücke von Schüler*innen zum Zahlen in Schulmensen in Deutschland einsetzen würden. Die Realität hatte uns eingeholt.

So erging es uns mehr als einmal. Wir entwickelten Fallbeispiele, um Möglichkeiten und die damit verbundenen moralischen Fragestellungen zu diskutieren und stellten immer wieder fest, wie uns die Realität einholte – und manchmal zu überholen schien. Scherzhaft meinten wir in der Gruppe einmal, wir sollten vielleicht aufhören, Fallbeispiele zu entwickeln und die Zukunft „herbeizureden“.

Selbst im Team entstanden ein um das andere Mal intensive Diskussionen: Alle Fallbeispiele werden, nachdem sie entwickelt wurden, in einem Etherpad der Fachgruppe vorgelegt. Hier können Vorschläge zum Text direkt aufgenommen oder bearbeitet werden, und es entstehen dabei häufig Diskussionen im Chat – um Details wie Namen, Begriffe oder Wortspiele, bis hin zu wesentlichen Aspekten oder erweiterten Handlungssträngen des Falls. In einem Fall wurde innerhalb des Teams der Einwand aufgeworfen, dass der Fall gar sehr konstruiert daher käme und wenig realistisch sei. Umso größer die Überraschung, als klar wurde, dass dieses Fallbeispiel auf einem aktuellen anonymisierten und etwas veränderten Fall basierte.

Ja, die Realität hat uns das eine oder andere Mal überrascht und immer wieder deutlich gemacht, wie wichtig die Diskussion dieser Fragen und auch der Beitrag von Fallbeispielen für die Diskussion ist.

Manche Fälle entstanden auch als Reaktion auf ein konkretes Ereignis. So griffen wir den Gesichtserkennungstest am Bahnhof Südkreuz in Berlin direkt auf. Auf Aussagen des damaligen Bundesinnenministers Seehofer in der Presse, der Fehlversuch sei erfolgreich gewesen [3], antworteten wir mit einem abgewandelten Fall, um deutlich zu machen, was diese Zahlen bedeuten, wenn viele Personen betroffen sind (Fallbeispiel „Statistische Irrungen“ [4]). Persönliche Rückmeldungen in Gesprächen zeigten, dass dies ein Fall ist, der sich auch für Kurse zu Statistik oder Data Literacy eignet. In dem Beitrag „Data Literacy: Kompetenzrahmen für Hochschulen“ [5] wird auf diesen Fall hingewiesen, um Daten im Kontext gesellschaftlicher und kultureller Wechselwirkungen zu betrachten.

Nicht alle Fälle beinhalten informatikspezifische Fragen oder haben einen technischen Kern. So haben wir zum Beispiel die Themen Plagiate, Pseudokonferenzen und Ghostwriting mehrfach aufgegriffen.

Die gemeinsame Entwicklung von Fallbeispielen und unsere Diskussionen änderten auch unseren Blick auf die Welt. Immer wieder stellten wir uns die Frage, ob sich daraus ein Fallbeispiel machen lasse. Die Teilnahme an einem Workshop „Teilhabe in der digitalen Transformation“ der Evangelischen Kirche im Rheinland führte dazu, die Frage, inwiefern die zunehmende Digitalisierung arme Menschen ausschließt, aufzugreifen (Fallbeispiel „Abgehängt?“ [6]).

Wir alle können immer wieder in Dilemma-Situationen kommen, die nicht direkt mit Informatik verknüpft sind, als Privatpersonen, im beruflichen oder universitären Umfeld.

Auf einen Fall möchten wir daher besonders hinweisen: „Karins Dilemma“ [7]. Dieser Fall spricht eine solche Situation an. Das Wort „Informatik“ spielt hier kaum eine Rolle und könnte durch eine beliebige andere Disziplin ersetzt werden. Es geht um sexuelle Belästigung im universitären Umfeld und die Ausnutzung der Machtposition eines Professors. Leider kommen solche Fälle in der Realität immer wieder vor. Und leider ist es bei solch ungleichen Machtverhältnissen auch für Personen, die unterstützen wollen, nicht immer folgenlos. Das Fallbeispiel hat nur einen Autor. Als emeritierter Professor und Mann war es der explizite Wunsch von Wolfgang Coy, dass das Beispiel nur unter seinem Namen veröffentlicht wird und nicht zusammen mit jemandem, der oder die noch etwas zu verlieren hat.

Was verdeutlicht dieser Fall? Unser moralisches Urteil ist nicht nur im Zusammenhang mit Informatik gefragt. Zivilcourage braucht es nicht nur, wenn z. B. auf mangelnden Datenschutz hingewiesen wird. Nein! Wir sind in unterschiedlichsten Situationen herausgefordert und müssen Stellung beziehen. Das moralische Urteil zu schärfen, Dilemmata zu diskutieren, sich Lösungsmöglichkeiten zu überlegen und den Blick für den Anderen, die Betroffene zu schärfen hilft in den unterschiedlichsten Situationen des Lebens. Auch darum sind uns die Diskussionen bereits bei der Entwicklung der Gewissensbits, der Fallbeispiele, im Zusammenspiel mit den aufgeworfenen Fragen, wichtig.

Die Fallbeispiele laden alle dazu ein, sich mit Fragen der Ethik auch ohne Philosophie- oder Informatikstudium zu beschäftigen. So behandelt der Fall „Menschenrechte“ Fra- gen der Kooperation mit einer Universität in einem Land, das für gravierende Menschenrechtsverletzungen bekannt ist [8]. Auch dieser Geschichte liegt ein wahrer Kern zugrunde. Aber auch unsere auf den ersten Blick rein „technischen Fälle“ weisen auf tiefer liegende moralische Probleme hin.

Die Fallbeispiele sind für Diskussionen mit Student*innen, im Kollegen- oder Freundeskreis entwickelt. Einige Fallbeispiele eignen sich auch für die Schule. Allerdings muss man hier darauf achten, dass die Fälle einen Bezug zur Lebenswelt der Schüler*innen darstellen. Auch müssen die Fragen bei jüngeren Schüler*innen gegebenenfalls präzisiert und angepasst werden.

Wir wurden immer wieder darauf angesprochen, ob wir nicht Lösungsvorschläge für unsere Fallbeispiele, d. h. Antworten auf unsere Fragen veröffentlichen könnten. Unsere klare Antwort lautet hier: Nein, das wollten wir nie. Das Ziel der Fallbeispiele besteht ja gerade darin, die verschiedenen Aspekte eines Falls zu erkennen und zu diskutieren und dann gemeinsam zu einer Lösung zu gelangen. Hier handelt es sich um einen demokratischen Aushandlungsprozess, und es gibt oft nicht einfach „die“ eine richtige Lösung. Wesentlich ist aber, dass wir lernen, ins Gespräch zu kommen.

Um die Diskussion zu fördern, richteten wir in unserem Blog auch die Kommentarfunktion ein. Und wir haben darauf geachtet, auf alle Einwände und Kommentare zu reagieren und zu antworten. In ganz seltenen Fällen mussten wir leider auch Kommentare löschen, weil sie vollkommen unpassend oder unangemessen waren. Den ein oder anderen, auch etwas grenzwertigen oder „speziellen“ Kommentar haben wir dagegen zugelassen. An dieser Stelle erwähnen möchten wir einen Kommentar von „Gott“ zu unserem Fallbeispiel „Data Mining für Public Health“ [9]: „Totaler scheiss so was schlechtes habe ich noch nie erlebt. Die fragen kann ja ein drei Jähriger beantworten ohne das er denn Text gelesen haben muss“ (man beachte die Orthographie).

Dies ist unser letzter Text der Reihe „Gewissensbits – wie würden Sie urteilen?“ im Informatik Spektrum. Wir danken dafür, dass Sie uns all die Jahre gelesen haben, für Ihr sehr geschätztes Feedback im Blog, aber insbesondere auch für die Gespräche über die Gewissensbits und Ihre Reaktionen, wenn wir uns persönlich begegnet sind. Eine Auswahl von Fallbeispielen wird im Frühjahr 2023 im transcript Verlag in Buchform mit einer Open-Access-Lizenz herauskommen. Wir werden dies in unserem Blog ankündigen.

Dieser Text ist jedoch kein Abschied. Die Gewissensbits, anregende Bits für unser aller Gewissen, werden fortgeführt im neuen Mitgliedermagazin der GI. Wir werden sie auch weiterhin in unserem Blog (gewissensbits.gi.de) veröffentlichen und freuen uns bereits auf zukünftige Diskussionen mit Ihnen.

Bis bald, in einem anderen Kanal.

Auf WiederLESEN!

 

Quellen

[1] https://gewissensbits.gi.de/fallbeispiel-biometrie/. Zugegriffen: 4. Oktober 2022

[2] https://taz.de/Biometrische-Kontrolle-im-Alltag/!5180398/. Zugegriffen: 4. Oktober 2022

[3] https://taz.de/Gesichtserkennung-im-oeffentlichen-Raum/!5540406/. Zugegriffen: 4. Oktober 2022

[4] Informatik Spektrum 42(5). https://gewissensbits.gi.de/fallbeispiel-statistische-irrungen/. Zugegriffen: 4. Oktober 2022

[5] Bush A, de Gruisbourne B, Matzner T, Schulz C (2021) Data Literacy: Kompetenzrahmen für Hochschulen. Arbeitspapier. https://www.campus-owl.eu/fileadmin/campus-owl/dalis/documents/Kompetenzrahmen_Workingpaper210921.pdf. Zugegriffen: 4. Oktober 2022

[6] Informatik Spektrum 45(3). https://gewissensbits.gi.de/fallbeispiel-abgehaengt/. Zugegriffen: 4. Oktober 2022

[7] Informatik Spektrum 34(5). https://gewissensbits.gi.de/fallbeispiel-karins-dilemma/. Zugegriffen: 4. Oktober 2022

[8] Informatik Spektrum 38(3). https://gewissensbits.gi.de/fallbeispiel-menschenrechte/. Zugegriffen: 4. Oktober 2022

[9] Informatik Spektrum 37 (1). https://gewissensbits.gi.de/fallbeispiel-data-mining-fuer-public-health/. Zugegriffen: 4. Oktober 2022

 

Erschienen im Informatik Spektrum 45 (6), 2022, S. 404-406, doi: https://doi.org/10.1007/s00287-022-01501-z

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