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Fallbeispiel: Schutz oder Überwachung?

Wenn Kinder sich ein Smartphone wünschen, stehen Eltern vor vielen schwierigen Entscheidungen. Unser Fallbeispiel stellt einige davon vor – und zeigt auch, wie diese bei Jugendlichen ankommen können.

Marcus Schmidt, Stefan Ullrich und Christina B. Class

Monika und Oliver wussten, dass der Tag kommt, an dem sie ihrer Tochter Lea das Smartphone nicht mehr verweigern können. Lea ist elf und die Schule informiert jetzt online über Hausaufgaben und Änderungen im Stundenplan, ihre Freundinnen verabreden sich fast nur noch über den Messenger und überhaupt sind die besten Videos im Netz zu finden. Glücklicherweise gibt es eine Vielzahl von Apps, die sich mit Funktionen zum Schutz von Jugendlichen rühmen und mit denen Eltern Kontrolle über die Bildschirmzeit haben. Monika und Oliver ist es außerdem wichtig, dass sie jederzeit im Blick haben, welche Apps ihre Tochter installiert und wo sie sich aufhält. Monika will auf keinen Fall, dass Lea sich jetzt schon einen Account zulegt, über den sie Fotos postet und dann Likes hinterherjagt. Oliver findet es beruhigend, dass er sehen kann, wo Lea sich befindet, wenn sie mal zur ausgemachten Zeit nicht zu Hause ist.

Für Lea ist das kein Problem. Sie ist einfach glücklich, dass sie endlich ein Smartphone hat und jetzt immer das Neueste erfährt und mitchatten kann. Zweimal lässt sie sogar ihr Smartphone liegen und kann es durch die eingeschaltete Standortfunktion über die Geräte ihrer Eltern leicht wiederfinden. Die installierten Apps beruhigen Monika und Oliver. So ist der Sprung der Tochter ins kalte digitale Wasser doch einfach ein bisschen sicherer. Sie sagen Lea auch von Anfang an, dass sie immer mal schauen würden, ob bei ihr online alles okay sei. Abends sitzen sie manchmal alle zusammen am Esstisch, schauen neue Apps an oder reden über ein paar grundlegende Gefahren: „Poste keine Bilder von dir. Antworte keinen Fremden. Sei lieber kritisch bei dem, was du online so alles siehst oder liest. Wenn was nicht stimmt, sind wir für dich da.“ Solche Sachen eben.

Nach zwei Wochen entdeckt Monika, als sie mit Lea zusammen deren Nachrichten ansieht, eine sehr seltsame Kontaktanfrage im Messenger. Sie bekommt ein ungutes Gefühl und schärft Lea eindringlich ein, solche Anfragen nicht zu beantworten. Auf dem Elternabend zwei Tage später bringt sie das zur Sprache. Ein Vater erzählt, dass seine Tochter Anna wohl eine solche Anfrage erhalten und angenommen habe. Daraufhin seien einige sehr anzügliche Nachrichten gefolgt und Anna sei etwas verstört gewesen. Eine andere Mutter erzählt, dass auch ihr Sohn eine sehr seltsame Kontaktanfrage erhalten habe. Der Klassenlehrer verweist auf Informationsseiten im Netz und versichert, dass er dies im Unterricht thematisieren werde.

Bei Lea überwiegt die Freude über das Smartphone einige Zeit und bald schon denkt sie gar nicht mehr so oft daran, dass ihre Eltern sie online verfolgen können. Erst als sie und ihre beste Freundin Mia sich heimlich mit der Jungsgruppe um Lukas treffen wollen und dafür in Richtung des alten Sportplatzes gehen, fragt sie sich laut, ob das ihre Eltern jetzt mitbekommen. „Ach“, sagt Mia, „schalt das Ding einfach aus und nachher wieder an und erzähl deinen Eltern, du hättest keinen Empfang gehabt. Klappt bei mir ständig.“ Lea schaltet das Gerät ab. Als sie am Abend am Küchentisch sitzt, fühlt sie sich etwas unsicher. Spürt sie, wie ihre Eltern irgendwie ein bisschen besorgt aussehen? Haben sie ihren Standort verfolgt, der sich lange Zeit nicht mehr bewegt hat? Warum muss das blöde Ding überhaupt so was an ihre Eltern senden? Ist doch ihre Sache, wo sie am Nachmittag ihre Zeit verbringt, oder etwa nicht?

Einige Zeit später liegt Lea träumend auf ihrem Bett. Sie hat sich inzwischen in Lukas verliebt und hat ihm heute ihre Nummer gegeben. Hoffentlich meldet er sich bald bei ihr. Gleich mal nachsehen – aber wo ist eigentlich ihr Smartphone? Sie läuft durchs Haus und sieht im Wohnzimmer ihre Mutter, die es in der Hand hält. Sie hat das Gerät über den Elternzugang entsperrt und scrollt … echt jetzt?? … durch die Nachrichten in ihrem Messenger. Lea fährt sie an: „Mama, was macht du an meinem Handy?“ Ihre Mutter gibt sich entspannt: „Ich wollte nur mal schauen, ob alles in Ordnung ist in deiner Welt.“ „Ohne mich zu fragen?“, entgegnet Lea barsch. „Das ist echt mies von dir! Nur ihr seid so misstrauisch, die Eltern meiner Freundinnen machen so was nicht!“ Monika gerät jetzt auch in Zorn: „Das ist nur zu deinem Schutz! Wenn wir keinen Zugang haben, dann hast du eben kein Smartphone.“ Sie rennt wütend aus dem Wohnzimmer und nimmt Leas Gerät gleich mit. „Zwei Tage Handyverbot, das hast du nun davon!“

Lea ist ebenfalls stinksauer. Wie soll sie frei mit ihren Freudinnen oder mit Lukas schreiben, wenn ihre Eltern einfach mitlesen können? Da fällt ihr ein, was Mia am Sportplatz erzählt hat – und als sie ihr Smartphone endlich zurück hat, öffnet sie ein privates Browserfenster und tippt: „Elternapp umgehen“. Sie bekommt große Augen, als sie die Ergebnisse sieht, und murmelt: „Wow, so einfach ist das?

Fragen

  • Dürfen die Eltern regelmäßig die Nachrichten von Lea lesen, ohne dass Anhaltspunkte für eine Bedrohung vorliegen? Sollte Lea in jedem Fall wissen, dass die Eltern Nachrichten lesen oder beim Lesen immer dabei sein?
  • Wird durch das Lesen der Nachrichten die Privatsphäre derer verletzt, mit denen Lea kommuniziert?
  • Wie wirkt sich die Nutzung einer solchen App potenziell auf das Verhältnis zwischen Lea und ihren Eltern aus?
  • Ist es das moralische Recht von Lea, die Eltern-App zu umgehen?
  • Dürfen Eltern ohne Hinweise auf eine Bedrohung regelmäßig den Standort ihres Kindes überprüfen?
  • Wer ist dafür verantwortlich, die Jugendlichen zu Gefahren im Netz und zum Umgang damit zu informieren – die Eltern oder die Schule?
  • Ist es vertretbar, Jugendlichen, zum Beispiel in der fünften Klasse, den Zugang zu Messengern etc. zu verwehren, wenn sie damit die einzigen in der Klasse sind, die keinen Zugang haben?
  • Wo hören Blödeleien in Chatgruppen auf und wo sind die moralischen und/oder strafrechtlichen Grenzen?
  • Inwiefern setzen Schulen „de facto“ eine Nutzung von Smartphones voraus? Welche Probleme ergeben sich daraus – insbesondere für Jugendliche, die keinen Zugang zu einem Smartphone haben? Müssen Alternativen angeboten werden?
  • Abgesehen von (selten eingehaltenen) offiziellen Altersregelungen: Von welchen Apps sollte man Jugendlichen abraten und warum?

 

Weiterführende Informationen betreffend Mediennutzung für Jugendliche:

 

erschienen in .inf 01. Das Informatik-Magazin, Frühjahr 2023, https://inf.gi.de/01/schutz-oder-ueberwachung

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