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Fallbeispiel: Barrierefreiheit mit Nachnutzung

René Buchfink, Christina B. Class, David Zellhöfer

Die Hochschule Langestadt ist eine kleine Hochschule, die sich als strategisches Ziel gesetzt hat, in allen Studiengängen ein barrierefreies Studium anzubieten. So wurden verschiedene Behindertenverbände und Fachexpert*innen bei der Ausgestaltung der Lehrräume eingebunden, um das Ziel der Barrierefreiheit bestmöglich zu erreichen. Ebenso konnten die jeweiligen Fachexpert*innen wertvolle Impulse in die Curricula einbringen, um das Thema Barrierefreiheit ganzheitlich in den Hochschulalltag einzubringen.

Da die Akustik der Hörsäle und Seminarräume in den alten Gebäuden als besonders herausfordernd für Menschen mit Hörbehinderungen wahrgenommen wird, wurden die Lehrräume mit neuen Beschallungsanlagen (PA-Anlagen) und modernen Lautsprechersystemen ausgestattet, welche den betroffenen Teilnehmer*innen die Teilnahme an Veranstaltungen erleichtern. Das installierte System stößt aufgrund von Umgebungsgeräuschen jedoch schnell an seine Grenzen, wie begleitend stattfindende Umfragen bei betroffenen Studierenden zeigen. Die Hochschule Langestadt handelt umgehend und entscheidet sich, die bestehende Technik um ein Active-Noise-Cancelling-Modul (ANC) zu ergänzen, um Störfrequenzen aktiv zu unterdrücken. Datenschutzrechtlich ist das System nicht zu beanstanden, da die zur Verarbeitung nötige Aufzeichnung aufgrund der kurzen Latenz rein lokal erfolgt, ohne dass Tonaufnahmen gespeichert werden.

Nachdem alle Systeme ertüchtigt wurden, steht dem Regelbetrieb nichts mehr im Weg.

Da ändert sich plötzlich der Studienalltag durch die COVID-19-Pandemie: Präsenzveranstaltungen werden unmöglich, sodass die angeschaffte Technik nunmehr die Online-Lehre unterstützen soll. Die Hochschule entscheidet sich schnell, die vorhandenen Beschallungsanlagen um eine Videoaufnahmemöglichkeit zu ergänzen. Um die Videos auch barrierearm anbieten zu können, erwirbt die Hochschule ein ergänzendes Softwaremodul, welches cloudbasiert die Videos transkribiert und untertitelt. Dieses wird vom Hersteller für die Lehre während Corona kostenfrei angeboten.

Mit dem Rückgang der Inzidenzzahlen kehrt die Hochschule Langestadt langsam zur Hybridlehre zurück und bietet nach und nach mehr Präsenzveranstaltungen an. Da sich die eingesetzte Technik während der Corona-Semester bewährt hat und eher Barrieren ab- als aufgebaut hat, entscheiden die Hochschulleitung und die zuständigen Gremien, sämtliche Lehrveranstaltungen weiterhin online zu übertragen und im Lern-Management-System (LMS) als Aufzeichnung bereitzustellen. Ein Antrag auf Landesmittel aus dem Fond für Inklusionsmaßnahmen wird problemlos bewilligt, immerhin kann die Hochschule den Erfolg der geplanten Maßnahmen durch Evaluation der Lehre zu Corona-Zeiten nachweisen. Die bereitgestellten Mittel ermöglichen der Hochschule, Evaluierungslizenzen für den dauerhaften Betrieb des Transkriptionsmoduls zu erwerben. Diese preislich reduzierten Lizenzen erlauben es dem Hersteller, Daten zum Training der Systeme und weiterer Anwendungsszenarien nachzunutzen. Die Hochschule betreibt selbst Forschung in diesem Bereich. Die Verantwortlichen an der Hochschule sind daher gerne bereit, aktiv an der Fortentwicklung des Systems mitzuarbeiten.

Da die prinzipielle Funktionsweise des Systems bereits durch den Datenschutzbeauftragten der Hochschule überprüft wurde, verzichtet man auf die erneute Einbindung der ohnehin schon überlasteten Stelle. Die Studierenden und das Lehrpersonal werden per Rundmail und Ankündigung im LMS über die Verstetigung der Technik informiert. Die Hochschule Langestadt erhält ein positives Presseecho. „Selten hat sich der Abbau von Barrieren in eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten verwandelt“, schreibt das Langestädter Tageblatt. Die Hochschule dient dem Hersteller des Systems auch als Referenzkunde.

Einige Monate später kommt Andrea, eine sehr beliebte und engagierte Professorin für Benutzerinteraktion und Mensch-Computer-Schnittstellen, von ihrem Forschungsfreisemester zurück. Sie sieht die Ankündigung, als sie die Vorlesung für das neue Semester im LMS vorbereitet und ist ziemlich verärgert. Sie beschwert sich bei der Hochschulleitung und im Forum des Lern-Management-Systems. Sie sehe ein, dass dieses System die Barrierefreiheit unterstützt und war in der Corona-Zeit auch bereit, sich darauf einzulassen. Aber sie fühle sich durch die Tatsache, dass ihre Veranstaltungen aufgenommen und dann transkribiert würden, eingeengt, könne nicht mehr so frei diskutieren und sie merke das auch an der Art, wie Studierende Fragen stellten. Ja, die Anzahl Fragen habe merklich nachgelassen. Die Spontanität fehle, eine aufgenommene Veranstaltung biete nicht mehr den Freiraum, Fehler zu machen, unausgegorene Ideen zu teilen und schränke letztendlich die Kreativität ein. Gerade in einer Design-Vorlesung sei dies wesentlich. Sie möchte dieses System nicht nutzen.

Ihre Beschwerde führt zu einigen hochschulinternen Diskussionen. Die begleitende Evaluierungsgruppe des Systems wird daher aufgerufen, sich an einem Treffen mit den von Andrea geäußerten Einwänden auseinanderzusetzen und nach Alternativen für die Sicherstellung der Barrierefreiheit zu suchen. In Vorbereitung auf das Treffen möchte sich die Gruppe auch ein Bild über die Darstellung der Hochschule als Referenz machen. Max, ein studentisches Mitglied der Gruppe, und selbst von einer Hörbehinderung betroffen, findet die Darstellung der Hochschule als erfolgreiche Fallstudie sofort, da sie prominent beworben wird. Er klickt auf den Link zur Fallstudie. Auf der Website erscheint neben einem genehmigten Auszug aus einer untertitelten Videoaufzeichnung einer Lehrveranstaltung ein Extrakt einer Transkription. Über einen Download-Button lässt sich der Transkriptionsausschnitt als PDF herunterladen – fast wie im LMS. Praktisch für die Diskussion, denkt Max. Er zögert nicht lange und klickt auf den Link.

Die Datei ist ungewöhnlich umfangreich und scheint den gesamten Redeinhalt eines Vorlesungsblocks zu enthalten. Es dauert nicht lange, bis Max Teile einer hitzigen Diskussion erkennt, die er mit Maren am Rande der Vorlesung vor einer wichtigen Sitzung des Studierendenrats geführt hat. Mist, dieses Gespräch war für niemanden bestimmt. Offenbar speichert der Hersteller die Daten zumindest in Textform dauerhaft. Da müsste er dringend drauf aufmerksam machen. Aber der Inhalt dieser Diskussion ist nun wirklich für niemanden gedacht.

Fragen

  1. Durfte die Hochschule Evaluationslizenzen erwerben, ohne erneut die Stelle des Datenschutzbeauftragten einzubinden? Oftmals verändern sich Lizenzbedingungen im Laufe der Zeit. Es ist nicht immer einfach, die Konsequenzen von Änderungen abzusehen. Wer entscheidet, wann der Datenschutzbeauftragte erneut einzubinden ist?
  2. Wie kann sichergestellt werden, dass die Daten nur für das Training von Software genutzt werden?
  3. Werden Aufzeichnungen von Vorlesungen zur Verfügung gestellt, wird es im Laufe der Zeit mehrere Versionen geben. Wie kann sichergestellt werden, dass für Prüfungen die jeweils gültige Version zur Anwendung kommt? Wie können Versionen mit Fehlern wieder „aus der Welt geschafft“ werden? Gibt es einen Unterschied zu anderen Formen von Unterlagen, die den Studierenden zur Verfügung gestellt werden?
  4. Es besteht ein Unterschied zwischen schriftlichen Unterlagen, die gegebenenfalls Korrektur gelesen wurden, und freier Sprache in einer Veranstaltung, insbesondere auch, wenn man spontan auf Fragen reagiert. Durch Aufzeichnung werden Fehler und unpräzise Aussagen dauerhaft festgehalten. Setzt dies Dozierende besonders unter Druck? Führt dies unter Umständen dazu, dass weniger frei gesprochen und Spontanität umgangen wird? Besteht die Gefahr, dass man weniger auf Fragen der Studierenden eingeht? Wie können Dozierende eventuelle Fehler korrigieren? Wie können Studierende eine geäußerte Frage sicher wieder zurücknehmen und aus dem Protokoll löschen, wenn sich eine Irrelevanz oder gar „Peinlichkeit“ zeigt? Wird das Recht auf Vergessen tangiert? Gilt dies auch dann, wenn die Aufzeichnungen nur innerhalb eines Kurses im LMS zur Verfügung gestellt werden?
  5. Wird eine Veranstaltung aufgezeichnet, werden auch Studierendenmeldungen aufgezeichnet: Wie kann eine wirksame, transparente Einverständniserklärung für ein solches System aussehen? Muss hier darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Daten zum Training der Software verwendet werden? Was passiert mit Studierenden, die eine solche Einverständniserklärung nicht abgeben wollen? Dürfen diese Studierenden dann trotzdem an der Veranstaltung teilnehmen? Unterliegen Sie dann quasi einem Redeverbot? Wie könnte das sichergestellt werden? Oder können Veranstaltungen, in denen diese Erklärung nicht von allen abgegeben wurde, nicht mehr aufgenommen und transkribiert werden? Was bedeutet das dann für hörbehinderte Studierende und die Barrierefreiheit?
  6. Fragen, Diskussionen und Fehler sind ein wichtiges Element des Lernens. Verursacht die Aufzeichnung aller Meldungen und Fragen der Studiereden ein „Abwürgen“ von Fragen und situativen Anmerkungen? Nehmen sich Studierende zurück, führt die Nutzung eines solchen Systems zur impliziten Selbstzensur? Entsteht dadurch ein schweigendes Auditorium? Was bedeutet das für die Qualität der Lehre und die Chancen für alle Studierenden?
  7. Menschen vergessen in vermeintlichen privaten Situationen und „geschützten“ Räumen schnell, dass sie aufgezeichnet werden. Dozierende und Studierende könnten nach einer Weile also vergessen, dass die Veranstaltung aufgezeichnet und transkribiert wird, auch wenn sie davon Kenntnis haben. Sie drücken sich dann u. U. anders aus, als sie es täten, wenn ihnen in dem Moment bewusst wäre, dass sie aufgezeichnet werden. Ist dies problematisch? Wie könnte das verhindert werden?
  8. Kann man die Ziele Barrierefreiheit, Datenschutz und Persönlichkeitsrechte gegeneinander aufwiegen? Welche Kriterien können für solch eine Bewertung herangezogen werden? Inwiefern können die Bedürfnisse Studierender mit und ohne Hörbehinderung gegeneinander abgewogen werden? Wie sind die Bedürfnisse der Dozierenden im Vergleich zu den Bedürfnissen hörbehinderter Studierenden zu gewichten? Ist es denkbar, dass Dozierende, die solche Systeme nicht nutzen wollen, an einer solchen Institution nicht mehr unterrichten können?
  9. Könnten/Sollten nach der Transkription vermeintliche Nebengespräche entfernt werden? Kann eine Software Nebengespräche sicher von Unterhaltungen im Rahmen des Unterrichts unterscheiden? Könnte dies im Rahmen einer manuellen Nachbearbeitung erfolgen? Welche Gefahren sehen Sie? Welche Möglichkeiten des Missbrauchs gibt es? Ist es sinnvoll, eine Transkription rein durch Software erstellen zu lassen? Wie bewerten Sie die Möglichkeit, eine manuelle Transkription oder manuelle Nachbearbeitung in einem Niedriglohnland zu erstellen?

Weitere Informationen

Erschienen im Informatik Spektrum 44 (6), 2021, S. 456–458, doi: https://doi.org/10.1007/s00287-021-01396-2

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