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Fallbeispiel: Digitales Bargeld?

Georg Rainer Hofmann, Debora Weber-Wulff

Ahmad, Benjamin und Celina treffen sich nach Arbeitsschluss in einem Café. Die drei haben zusammen an der Universität Memmingen studiert. Sie sind alle im Fintech-Gewerbe tätig, aber für unterschiedliche Firmen. Nachdem sie ihre Bestellungen aufgegeben haben, beginnt Ahmad von seiner Firma zu erzählen. „Wir sind dabei, digitales Bargeld herzustellen!“ Benjamin zieht die Augenbrauen zusammen. „Was wollt ihr da machen, digitales Bargeld? Bargeld ist nicht digital – und digitales Geld ist kein Bargeld. Beides gleichzeitig geht nicht.“ Er grinst Ahmad herausfordernd an.

„Doch, doch“, sagt Ahmad. „Wir werden mit einer Blockchain-Technologie arbeiten, damit unser digitales Geld so anonym wie Bargeld ist. Und wir wollen halt eine Lösung aus der EU haben, wegen der DSGVO. Datensparsamkeit ist unser oberstes Gebot!“ Celina verschluckt sich gerade an ihrem Tee. „Nee, Blockchain? Sag mal, hast du damals in der Uni nicht beim Thema Kryptografie aufgepasst? Blockchain kann keine Anonymität garantieren! Wann immer du mit deinem ‚digitalen Bargeld‘ zahlst, gibt es quasi ein Bewegungsmuster in der Blockchain. Im Laufe der Zeit kann man dich ohne weiteres de-anonymisieren – man erkennt deine charakteristischen Geldausgaben, wenn man es darauf anlegt. Ich arbeite ja für diese Rabattkartenfirma ‚Memmingen-Card‘. Von daher weiß ich genau, dass man aus den Daten der Zahlungsvorgänge die jeweiligen Inhaber unserer ‚Memmingen-Card‘ rekonstruieren kann.“

Der Kuchen kommt, und die Freunde fokussieren ihre Aufmerksamkeit für eine Weile auf die Leckereien.

Nach einer Weile fragt Benjamin in die Runde; „Habt ihr auch von dem großen Ransomware-Hack bei dieser einen Bank neulich gehört? Wir sind ja hier ‚nur‘ in einem Café – aber was ist, wenn du gerade tanken musst und diese digitalen Zahlungssysteme, Blockchain oder was auch immer, nicht erreicht werden können? Dann stehst du dumm da, denn du kannst das Benzin an der Tankstelle nicht bezahlen, das du aber dringend brauchst!“

Celina: „Und überhaupt, was passiert, wenn alle Leute auf digitales Geld bei der Bank umsteigen wollen oder müssen? Wenn es, wie jetzt, Negativzinsen gibt, dann kann man mit Bargeldbesitz noch ausweichen. Denn wenn alles Geld als digitales Geld bei den Banken liegt, werden diese daran sehr gut verdienen können. Nee, nee, ich meine, wir dürfen das Bargeld nicht aufgeben.“

Ahmad fragt weiter: „Aber was machst du denn jetzt für ein Projekt, Benjamin?“ – „Naja, auch wir sind dabei, ‚irgendwas‘ mit Blockchain zu machen. Der Aufsichtsrat hat beschlossen, dass wir uns hierzu Kompetenzen aufbauen müssen. Der Vorstand hat unser Team angewiesen, nach dem Motto: Hier ist viel Geld und wenig Zeit, macht mal was damit.“ Aber Ahmad will weiter wissen: „Und was wollt ihr denn konkret machen?“ Benjamin antwortet: „Wir sind dabei, die persönlichen täglichen finanziellen Transaktionen auf Blockchain-Basis zu implementieren.“

Darüber regt sich Celina auf, „Mensch, dann bleiben ja die Transaktionsdaten auf ewig erhalten. Eure Blockchain vergisst ja nichts! Können wir das wollen, dass man auch in 25 Jahren noch weiß, dass wir heute in diesem Café gesessen sind, und was wir hier ausgegeben haben?“ Ahmad wirft ein: „Ach komm, in 25 Jahren gibt es ganz andere Technologien, da wird man das nicht mehr nachvollziehen können. Und wen interessiert das dann überhaupt noch?“ Benjamin stellt klar, dass der Sinn von Transaktionen ja gerade der ist, dass man Jahre später nachvollziehen kann, was passiert ist. Das ist wichtig, um ggf. bei Strafermittlungen erforderliche Nachweise zu erbringen.

Gegen Ende der Kaffeerunde kommt die Kellnerin zum Abrechnen. Celina zieht ihre Geldbörse und Bargeld aus der Tasche. „Oh, haben Sie das Schild am Eingang nicht gesehen? Wir nehmen kein Bargeld mehr an. Haben Sie keine Kreditkarte oder eine girocard? Wir sind hier ein rein digitales Unternehmen. Wir haben schon zu oft Falschgeld untergejubelt bekommen.“

Celina besteht darauf, bar zu bezahlen, denn wenn sie digital bezahlt, kann ihre Frau auf dem Kontoauszug sehen, dass sie noch im Café war – und sie hatte eigentlich versprochen, weniger oft in den teuren Innenstadtcafés zu essen. Sie sagt, sie zahle sowieso lieber in bar. „Da weiß ich immer, wieviel Geld ich noch habe. Bei diesen Karten vergesse ich manchmal schon, wieviel Geld ich ausgegeben habe.“ Da schaltet sich Benjamin ein: „Na, dann zahl ich halt zusammen mit meiner Karte und ihr gebt mir das dann in bar.“ Er grinst Ahmad an: „Wobei du das doch eh abschaffen willst, das Bargeld.“ Celina zückt aber doch noch ihre ‚Memmingen-Card‘, um die Rabattpunkte für die Ausgaben im Café zu sammeln. „Das kriegt meine Frau nicht mit“, sagt sie, und grinst.

Fragen

  1. Wenn Celina unbedingt mit Bargeld zahlen will, ist es dann okay, wenn Benjamin einspringt und für sie die „digitale“ Bezahlung übernimmt?
  2. Celina will nicht mit Karte zahlen, aber sie zögert nicht, Rabattpunkte zu sammeln. Ist das ein Widerspruch?
  3. „Irgendwas mit Blockchain“ ist sehr angesagt. Ist es sinnvoll, dass Benjamin für eine technische Lösung unbedingt Einsatzgebiete sucht?
  4. Müsste Ahmad nicht genauer fragen, ob die Anonymität der Kunden durch die von ihm realisierte Blockchain wirklich geschützt ist? Verstehen alle Kunden von Ahmads Firma wirklich, was Pseudoanonymität ist?
  5. Ist es sinnvoll, dass Ahmad an einer europäischen Lösung arbeitet, statt nur auf ausländische Ideen zu setzen?
  6. Sollten Firmen darauf bestehen dürfen, dass die Kunden bargeldlos bezahlen? Reicht ein Schild am Eingang aus? Schließlich sind Bargeldgeschäfte gesetzlich erlaubt.
  7. Sollte Bargeld besser abgeschafft werden? Das würde Schwarzgeldgeschäfte doch sehr erschweren.
  8. Müsste Benjamin spezielle Datenschutzvorkehrungen treffen, wenn er die Privatsphäre von Kunden mit Transaktionen dokumentiert?
  9. Inwiefern können Personen gänzlich ausgeschlossen werden, wenn sie nicht im Besitz der Infrastruktur sind? Nicht jede Person hat zum Beispiel eine Kreditkarte.

Erschienen im Informatik Spektrum 44 (5), 2021, S. 374–375, doi: https://doi.org/10.1007/s00287-021-01396-2

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