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Fallbeispiel: Eignungsfeststellungsverfahren

Jennifer Schmautzer, Carsten Trinitis

Emily ist mit ihrem Informatik-Bachelor an der TU fast fertig. Im vergangenen Semester hat sie ein Praktikum im Ausland gemacht, um ihre Fremdsprachenkenntnisse sowie ihre Schlüsselqualifikationen zu verbessern. Dabei hat sie sich für eine Firma aus den USA entschieden, die sich vor allem auf die Entwicklung autonomer Autos spezialisiert hat. Denn Emily war schon als Kind von Autos und deren Technik sowie Funktionsweise fasziniert. Seitdem sie außerdem selbst eine begeisterte Autofahrerin ist, hat sie angefangen, sich näher mit der fortschreitenden Technologie im Bereich der Automobilindustrie auseinanderzusetzen. Insbesondere autonome Autos haben ihr Interesse geweckt, weshalb sie in ihrem Praktikum mehr über die verschiedenen KI-Technologien und Werkzeuge in autonomen Autos lernen wollte.

Ihr damaliger Praktikumsbetreuer Tom hat ihr erklärt, dass Deep Learning als Teilbereich des Machine Learnings eine wichtige Methode und Grundlage für die Entwicklung autonomer Autos darstellt. Denn über sogenannte neuronale Netze, die ähnlich wie ein menschliches Gehirn aufgebaut sind, können die Autos eine Verbindung mit der Umgebung herstellen. Außerdem müssen die Autos in der Lage sein, viele verschiedene Daten zu verarbeiten, Muster auf Basis von Bild- und Sensordaten zu erkennen und Entscheidungen auf Grundlage von KI-Algorithmen zu treffen.

Toms Aufgabe besteht unter anderem darin, genau solche KI-Algorithmen zu implementieren. Im Laufe des Praktikums, in dem sie Tom über die Schulter schauen und kleine Implementierungen unter seiner Aufsicht selbst durchführen durfte, ist ihr klar geworden, dass bereits kleine Fehler im Code und damit in der Software zu einer Vielzahl von Unfällen führen können. Emily wird auch jetzt noch mulmig bei dem Gedanken, dass sie für den Tod von anderen Menschen verantwortlich sein könnte.

Zudem fragt sie sich, wer bei einem Unfall, an dem ein autonomes Auto beteiligt ist, im generellen Fall die Haftung übernehmen müsste. Der Fahrer, der Hersteller, der Konstrukteur oder doch etwa der Software-Entwickler? Sie stellt fest: Toms Job bringt auf jeden Fall viel Verantwortung mit sich!

Auch in der Personalabteilung, die sie, während Tom auf einer Fortbildung war, besuchen durfte, sind ihr verschiedene Anwendungen von Künstlicher Intelligenz begegnet. So wendet die Firma unter anderem sogenanntes Roboter Recruiting zur Personalauswahl an. Es werden jedoch nicht nur Lebensläufe und weitere Bewerbungsunterlagen anhand bestimmter Kriterien voranalysiert, sondern sogar das Bewerbungsgespräch wird von einem Computer durchgeführt.

Emily war sofort begeistert, wie diese KI-basierte Software dabei Mimik, Stimme und Inhalt genau analysieren kann, um anschließend zu ermitteln, ob sich der Bewerber für den Job eignet oder nicht. Sie hat erfahren, dass die Firma mithilfe von Roboter Recruiting bereits erfolgreich Mitarbeiter einstellen konnte, und dass die Trefferquote ebenfalls sehr hoch sei. Der Computer hat eben im Gegensatz zum Menschen keine Vorurteile und ist somit diskriminierungsfrei, denkt sich Emily. Somit ist Roboter Recruiting nicht nur eine Erleichterung für die Personalabteilung, sondern bringt auch noch Vorteile für die Bewerber mit sich.

Als Emily wieder zurück in Deutschland ist und ihr Praktikum Revue passieren lässt, wird ihr erst bewusst, in wie vielen Bereichen und Anwendungen KI heutzutage nicht mehr wegzudenken ist. Inspiriert von ihrem Praktikum beschließt sie, sich tiefgehender mit den Methoden und Werkzeugen der KI zu beschäftigen. Auf der Suche nach Kommilitonen, die sich ebenfalls für KI interessieren, entdeckt sie an ihrer Universität eine Projektgruppe zur KI. Da das Semester gerade erst begonnen hat, kann sich Emily noch ohne Probleme anmelden.

In der darauffolgenden Woche besucht sie das erste Treffen der Gruppe, an dem festgelegt werden soll, an welchem KI-basierten Projekt man dieses Semester arbeiten wird. Emily überlegt, welche KI-Verfahren sie in ihrem Praktikum am meisten begeistert haben, und inwiefern man diese in einem eigenen Projekt erforschen und realisieren könnte.

Schließlich erzählt sie den restlichen Teilnehmern von dem Verfahren des Roboter Recruitings, das die Firma aus den USA bereits erfolgreich eingesetzt hat. Im Zuge dessen kommt ihr die Idee, dieses oder ein ähnliches Verfahren auch für das Eignungsfeststellungsverfahren (EFV) im Bewerbungsprozess bei Studierenden anzuwenden. Die erste Stufe des EFV ist hierbei bereits digitalisiert: Anhand der eingesendeten Bewerbungsunterlagen wird digital festgestellt, welche von den Fakultäten definierten Punktegrenzen jeweils erreicht sind. Anschließend sendet die Universität dem Bewerber, abhängig von seiner Punktezahl, automatisch eine E-Mail zu, die ihm mitteilt, ob er direkt für einen Studienplatz zugelassen wird, keinen Studienplatz erhält oder in das EFV-Gespräch muss. Die zweite Stufe des EFV, also das Gespräch mit dem Professor, ist derzeit allerdings noch nicht digitalisiert.

Der Projektleiter und die anderen Teilnehmer sind begeistert von ihrer Idee, dieses Gespräch auch zu digitalisieren, weshalb sie sich schließlich für dieses Projekt entscheiden. In den nächsten Wochen beginnen sie, die verschiedenen notwendigen KI-Techniken hierfür zu erarbeiten und umzusetzen. So beschäftigen sie sich intensiv mit dem Verfahren des Deep Learnings, das Emily bereits in ihrem Auslandspraktikum im Bereich der autonomen Autos kennenlernen durfte. Damit die KI am Ende sinnvolle Ergebnisse liefert, ist es besonders wichtig, die künstlichen neuronalen Netze mit möglichst vielen qualitativ hochwertigen Daten zu trainieren.

Deshalb sammeln Emily und die anderen Gruppenmitglieder über das gesamte Semester Daten von erfolgreichen Studienabsolventen, um die KI damit zu trainieren und zu verfeinern. Nach einem Gespräch des Computers mit einem Studienbewerber vergleicht die KI schließlich die gespeicherten Daten erfolgreicher Studienabsolventen mit den im gesamten EFV gesammelten Daten, um basierend darauf eine Entscheidung zu treffen. Emily verbringt jede freie Minute an der Verfeinerung dieses Deep Learning Prozesses.

Eines Abends, als Emily bei ihrer Tante und ihrem Onkel zu Besuch ist, berichtet sie ihnen begeistert von ihrem Projekt und seinem stetigen Fortschritt. Ihre Tante, die sich kaum mit Technik und Informatik auskennt, ist skeptisch und fragt sich, ob die Entscheidung über einen Studienplatz wirklich von einer Maschine getroffen werden kann. Sollte nicht ein Mensch über eine so wichtige Entscheidung bestimmen? Denn woher soll die Maschine wissen, wer für einen bestimmten Studienplatz geeignet ist und wer nicht? Emily versucht, ihrer Tante das grundlegende Verfahren von selbstlernenden Maschinen zu erklären und ihre Bedenken zu widerlegen, doch sie kann die Befürchtungen ihrer Tante nicht vollkommen ausräumen.

Auch ihr Onkel, der sich als GI-Mitglied an der TU sehr wohl mit Informatik auskennt, sieht das Projekt teilweise kritisch. Er erzählt Emily von einem Fall bei Amazon, bei dem die KI Frauen bei der Personalauswahl benachteiligt hat. Schuld waren die Trainingsdaten für die KI, die auf den Bewerbungen der letzten zehn Jahre basierten. Denn die meisten Bewerbungen stammten von Männern, weshalb das KI-System daraus folgerte, dass das Unternehmen bevorzugt Männer einstelle.

Emilys Onkel macht ihr deutlich, dass die Menschenwürde in diesem Fall nicht gewahrt und geschützt wurde, wie es klar im Artikel 9 “Zivilcourage“ der neuen ethischen Leitlinien, welche das Präsidium der GI am 9. Juni 2018 verabschiedet hat, gefordert wird.

Als Emily an diesem Abend nach Hause geht, wird ihr bewusst, dass ihr Projekt eventuell auch Schattenseiten besitzt, über die sie sich bis jetzt keine Gedanken gemacht hat. Was ist, wenn auch bei ihnen die Trainingsdaten Vorurteile enthalten, weil Jungs beispielsweise eher technische Studiengänge wählen als Mädchen? Daheim recherchiert Emily über ähnliche Fälle und fängt an, ihr Projekt kritisch zu hinterfragen. Doch so kurz vor dem Ziel möchte sie natürlich nicht aufgeben und schiebt die Gedanken beiseite.

Zwei Wochen später ist die Arbeit an ihrem Projekt fertiggestellt, und erste Tests mit freiwilligen Studienbewerbern werden durchgeführt. Nach dem Gespräch mit dem Computer füllen die Testpersonen außerdem einen Fragebogen aus, in dem ihre persönliche Meinung über das geführte Gespräch erfasst wird. Als die Projektgruppe die Fragebögen auswertet, stellt sie fest, dass viele auch Kritik enthalten. So wird beispielsweise kritisiert, dass man eine von einem KI-basierten System getroffene Entscheidung nicht nachvollziehen könne. Schließlich trifft die KI die Entscheidung auf Grundlage von verknüpften Daten und von Wissen, über das kein direkter Zugriff besteht. Außerdem geben einige Testpersonen an, dass sie sich bei dem Gespräch unwohl gefühlt haben und nicht wussten, wie sie sich verhalten sollen. Vielen fehlte auch einfach das Persönliche, das so ein Gespräch doch irgendwie ausmache.

Obwohl Emily mit Kritik gerechnet hat, ist sie nun doch etwas schockiert. Als schließlich auch noch ihre Befürchtungen wahr werden und die Testergebnisse zeigen, dass nur Jungs im Informatikstudiengang zugelassen worden wären, ist ihr klar, dass ihr Verfahren noch lange nicht ausgereift ist.

Fragen

  1. Inwie vielen und welchen Lebensbereichen begegnet KI uns tatsächlich? Ist KI aus unseremLeben überhaupt noch wegzudenken? Inwiefern unterstützen uns die verschiedenen KI-Technologien? Können sie uns auch in irgendeinerWeise schaden?
  2. Was sind qualitativ hochwertige Daten für das Training der neuronalen Netze im Hinblick auf die Digitalisierung der zweiten Stufe des EFV? Sollten die Trainingsdaten nur Daten von Studienabsolventen mit einem Studienerfolg nach X Semestern enthalten, oder sollte der Studienerfolg insgesamt zählen? Welche Daten sind überhaupt von Relevanz, wenn es um den Abschluss eines erfolgreichen Studiums geht? Woran kann man festmachen, ob jemand ein Studium schaffen wird? Gibt es hierfür überhaupt irgendwelche Kriterien?
  3. Inwieweit kann man sicherstellen, dass die Daten frei von Vorurteilen sind bzw. ist das überhaupt möglich?
  4. Kann man das Verfahren von Roboter Recruiting also einfach auf Bewerbungsverfahren von Studierenden anwenden?
  5. Was ist mit den Befürchtungen der Tante? Kommt der Computer bei Menschen wie Emilys Tante, die eine Ablehnung und Unsicherheit bei solchen Verfahren aufweisen, zu anderen Ergebnissen als bei Menschen, die sich mit der Technologie auskennen und diese für gut heißen? Wenn ja, ist dies gerechtfertigt?
  6. Wie sieht es bezüglich des Datenschutzes aus?
  7. Inwiefern ist eine Dokumentation der Daten, die für das Training der KI verwendet werden, notwendig? Wie kann man diese dokumentierten Daten im Falle eines Einspruchs von einem Studienbewerber bei Ablehnung berücksichtigen? Kann eine Entscheidung nachträglich aufgrund dieser Dokumentation geändert werden?

Erschienen im Informatik Spektrum, 42(4), 2019, S. 304-306, doi: 10.1007/s00287-019-01189-8

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