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Fallbeispiel: Freiwillige DNA-Sammlung

Constanze Kurz, Debora Weber-Wulff

Erst seit wenigen Wochen arbeitet Rita bei der Firma ,,Wissenscode“. Sie ist Bio-Informatikerin und hatte bei dem recht bekannten Unternehmen angeheuert, weil sie die Mischung aus Wissenschaft und Business für ihre berufliche Zukunft als sinnvoll erachtet. ,,Wissenscode“ wertet für medizinische Zwecke große Mengen genetischer Daten aus. Die Gründer der Firma sind Mediziner, die sich medial ganz gern als Visionäre inszenieren. Rita findet die PR ihres neuen Arbeitgebers ein wenig überzogen, kann sich aber mit der Idee gut identifizieren, ihre Arbeitskraft als Informatikerin für den Zweck einzusetzen, Krankheiten entgegenzuwirken und Forschung zu unterstützen.

Aktuell wird das größte Projekt in der Geschichte des Unternehmens vorbereitet: Von 200.000 Menschen in einem bestimmten Gebiet Deutschlands sollen DNA-Daten eingesammelt und analysiert werden. Die Region ist natürlich nicht isoliert, dennoch leben nach wissenschaftlich belegten Studien besonders viele Familien dort seit mehreren Generationen und sind überdurchschnittlich sesshaft. Eine Genom-Datenbank über diese 200.000 Menschen soll hohe Aussagekraft über vererbbare Krankheiten hervorbringen.

Als das erste Mal Post von der Firma ,,Wissenscode“ in den Briefkästen der Region lag, hatte die Presse noch gar keinen Wind davon bekommen. Die Bürger wurden aber mit einer ansehnlichen bunten Broschüre über künftige medizinische Durchbrüche informiert, die man aus den freiwillig abzugebenden Gendaten ziehen wolle. Man habe einen lokalen gemeinnützigen Verein als Kooperationspartner gewinnen können, deren Mitarbeiter die DNA-Proben an jedem einzelnen Haus einsammeln werden. Nach Ende der Sammlung werde ,,Wissenscode“ an die Organisation fünf Euro pro Probe spenden, damit winken also eine Million Euro Spenden.

Die Presse springt bald auf das Thema an und stellt es mehrheitlich als eine großartige Aktion dar, um mehr Wissen über Krankheiten zu erlangen und zugleich Spenden für die wohltätige Organisation zu sammeln. Politiker der Region stellen sich öffentlichkeitswirksam hinter das Vorhaben von ,,Wissenscode“. Einige Krankenkassen kündigen Kooperationsprojekte an. Es gibt zwar auch einige wenige Kritiker, aber die befürwortende Stimmung überwiegt klar.

In Rita allerdings wachsen die Zweifel: In der Firma selbst sind nämlich keine Vorbereitungen getroffen worden, die informationstechnische Auswertung der Proben in den Datenbanken vorzunehmen. Die ganze Abteilung, in der Rita arbeitet, werkelt weiter an ihren bisherigen Auswertungen als stehe gar keine große Datensammlung zur Analyse an. Immerhin wäre das die größte Auswertung, die je durchgezogen wurde.

Und warum wird die ganze Aktion eigentlich in nur einer Woche vollzogen? Warum reagiert die Firma nicht auf kritische Nachfragen? Stattdessen betont ,,Wissenscode“ nun auf allen Kanälen und über die Presse, dass die DNA-Sammlung nur dann medizinischen Nutzen haben könne, wenn ganz viele Menschen der Region auch mitmachen. Und jeder müsse doch wollen, dass sinnvolle Forschung über Krankheiten mit den Daten vollzogen werden könne.

Rita erkundigt sich firmenintern über diese Merkwürdigkeiten, kann aber nichts Genaues erfahren. Es gibt zwar Gerüchte, dass die Firma verkauft werden soll, aber die hat es schon immer gegeben. Sie fragt sich, ob die Daten vielleicht eine Art Mitgift sind? Andererseits gibt es schon viele Firmen, die freiwillige DNA-Proben auswerten, um den Einsendern Informationen darüber zu geben, wo ihre Familie herstammt. Da zahlen die Kunden sehr gutes Geld, um recht nutzlose, aber interessante Informationen zu erhalten.

Fragen

  1. Wie ist das massenhafte Einsammeln genetischer Daten generell ethisch einzuschätzen?
  2. Darf Rita in ihrer Firma herumspionieren, nur weil sie unbeantwortete Fragen hat?
  3. Soll Rita ihre Bedenken äußern? Sie weiß ja nichts Gesichertes.
  4. Steht Rita in einer Handlungspflicht, wenn sie von dem Verkauf von ,,Wissenscode“ Kenntnis erlangt? Wenn ja, welche?
  5. Ist es überhaupt eine ethische Frage, wenn Rita über Informationen über die DNA-Sammlung verfügt, aber sich entschließt, mit niemandem darüber zu reden? Schließlich kann ja die Verarbeitung woanders stattfinden.
  6. Darf sich Rita anmaßen, selbst zu entscheiden, was für die vielen DNA-Datengeber von Interesse ist und was nicht?
  7. Gemeinnützige Organisationen haben fast immer Geldnot. Gibt es irgendwelche Probleme, wenn sie bei der DNA-Materialsammlung mitmachen?
  8. Ist Rita moralisch verpflichtet, eine drohende Verletzung von Persönlichkeitsrechten an jemanden zu melden? Schließlich vertrauen die DNA-Datengeber darauf, dass die eingesammelten Proben zur medizinischen Forschung verwendet werden.
  9. Gibt es ethische Forderungen an ,,Wissenscode“?

Erschienen im Informatik Spektrum, 42(1), 2019, S. 58-59

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