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Fallbeispiel: Smoke & Mirrors

Stefan Ullrich, Rainer Rehak

„Geht es dir um die Sache oder um dich?“ Hannah weiß nicht, was sie ihrer Mitbewohnerin antworten soll.

„Wenn es dir um die Sache geht“, fährt Jelena fort, „solltest du zusagen. Ethik und Nachhaltigkeit sind doch genau dein Ding. Und ein bisschen mehr Publikum kann doch auch nicht schaden!“

Hannah schaut nochmal auf das Schreiben der großen Organisation „AI & I4 Future“, die auf Social Media nicht zuletzt durch ihre visuell beeindruckenden Kampagnen bekannt wurde. AI&I4F bezeichnet sich selbst als ein visionäres Zukunftslabor und Crash-Test-Institut für Künstliche-Intelligenz-Systeme. In dem Schreiben wird sie eingeladen, zusammen mit Expert*innen und Aktivist*innen aus ganz Europa ein Manifest für eine nachhaltige und gemeinwohlorientierte Künstliche Intelligenz zu erarbeiten. Die Einladungsliste liest sich erstklassig, es sind ebenso gestandene Wissenschaftler*innen darunter wie populäre Schauspieler*innen; zu Veteran*innen der Anti-Atomkraft-Bewegung gesellen sich junge Influencer*innen aus der Ökotech-Szene – kurzum, es scheinen alle relevanten Stakeholder ausgewählt zu sein.

„Stakeholder“, wiederholt Hannah plötzlich laut zu sich selbst, „ich denke schon genau so wie SIE. Was soll denn Multi-Stakeholder überhaupt heißen?“ Jelena stutzt und zupft ein wenig verträumt an den zahlreichen Schichten ihrer selbstgenähten Kleidung. „Ist es ein Problem für dich, dass diese AI-Leute einfach so stylisch sind und echt gute Visuals produzieren?“ Hannah will es ja nicht zugeben, aber neben inhaltlichen Fragen ist auch das irgendwie ihr Problem. Sie kommt sich etwas albern vor, doch nach einigem Hin und Her entscheidet sie sich, im Expert*innen-Gremium mitzumachen.

Das erste Treffen aller Beteiligten findet wenige Wochen später auf einem alten Gutshof im Süden des Landes statt, dem Hauptsitz von AI&I4F. Sie werden vom Bahnhof mit Elektroautos abgeholt, Hannah sitzt mit dem bekannten Transformationsforscher Mats Hillebork auf der Rückbank. Durch Plexiglas-Abtrennung und Maske kann sie ihn nicht so gut verstehen, sie ist auch kein native speaker, aber er scherzt ganz offensichtlich über den Aufwand des Treffens. Auf Englisch teilt er ihr mit, dass der Gutshof einst der Fugger-Handelsfamilie gehört hat und von AI&I4F schließlich zu einem Vorzeigehof in Sachen Nachhaltigkeit umgebaut wurde. Ob Hannah sich nie gefragt habe, warum eine historische Mühle das Logo von AI&I4f ziere? Aber so richtig ökologisch nachhaltig sei das nicht, meint Hillebork, als sie an der Mühle vorbeisteuern. „Das ist eine Mühle der Habsburger aus Spanien, die wurde vor 10 Jahre Ziegel für Ziegel und Balken für Balken hierher geschafft, die alte Bockwindmühle war wohl nicht schick genug!“ Hillebork lacht, und so weiß Hannah nicht, ob es ein kruder Scherz war oder sie auch alles richtig verstanden hat.

Für eine auf Künstliche-Intelligenz-Audits spezialisierte Organisation findet sich erstaunlich wenig Technisches hier. Sicher, die E‑Autos sind da, auch die Überwachungskameras, aber ansonsten tummeln sich eine Unmenge von Angestellten auf dem weiten Gelände. Frauen, die Wäsche auf Waschbrettern waschen, junge Männer, die Wasser aus dem Brunnen schöpfen und ein alter Butler, der in der Tür steht und ihnen die Richtung ins Haus weist. Überall stehen Schalen mit Obst und vegetarischen Leckereien. Es ist angenehm kühl im Schloss, ja, es wirkt wirklich wie ein Schloss. Sie hat zwei Zimmer nebst modernem Bad für sich allein, hier sieht alles ultramodern aus, im Gegensatz zum restlichen Gebäude. Die aktuellen Wetterdaten und neuesten Community-Nachrichten erscheinen in einer Ecke des Badezimmerspiegels. Das Kick-Off-Meeting wird drei Tage dauern, macht sie sich klar. „Ich sage schon wieder Kick-Off, ich übernehme schon wieder deren Sprache, das ist nicht Aye Aye, AI“. Die letzten Worte sind der Werbeslogan einer bekannten KI-Sprachassistenz, und tatsächlich: Im Bad ist das charakteristische Doppelklingeln zu hören und ein System wartet auf die Eingabe der überraschten Nutzerin.

Hannah macht sich bereit für das erste Treffen vor dem angekündigten „AI-Dinner“. Sie erwartet ein Arbeitsessen, zieht sich also nicht besonders schick an. Sie ist daher sehr überrascht, als sie unten in der Lobby ankommt und dort viele Fernsehkameras laufen. Es werden Interviews und Fotos gemacht und der ein oder die andere Journalistin geht herum und lässt sich von den Expert*innen die besonderen Möglichkeiten der KI erklären und wie wichtig ein ethischer Umgang damit sei, gerade in Abgrenzung zu den USA und China, wie es heißt. Wie schön wird die Welt der Zukunft, wenn die KI uns so viele Probleme abnimmt und noch dazu exportiert werden kann. Auch die restlichen Aktivitäten der nächsten Tage auf dem Schloss gehen inhaltlich nicht besonders tief, werden von der Moderation oft hin zu Allgemeinplätzen bewegt und sind regelmäßig von öffentlichkeitsorientierten Pausen mit Fototerminen und Interviews durchzogen, teilweise sogar mit internationalen Medien. Hannah ist ein wenig enttäuscht, da sie viel mehr inhaltliche Arbeit erwartet hätte. Andererseits trifft sie viele interessante Menschen aus ihrem Themenbereich, und auch die paar Tage mal ganz aus ihrem Alltag zu sein genießt sie sehr, wie sie sich eingesteht. Vielleicht muss sowas auch ab und zu einfach mal sein und sie sollte das alles nicht zu eng sehen, verdient hat sie es jedenfalls durch ihre harte Arbeit den Rest der Zeit.

Diese Art Treffen finden nun alle paar Monate statt und innerhalb von zwei Jahren entwerfen die Expert*innen ein Abschlussdokument, unterzeichnet von allen Beteiligten, optisch sehr ansprechend gestaltet und prominent durch die aktuelle AI&I4F-Kampagne beworben, die ein optionales KI-Güteprüfsiegel für europäische Value-Based-AI propagiert. Inhaltlich ist das Dokument jedoch Hannahs Ansicht nach wenig visionär, gibt im Kern nur den allgemeinen Stand der Diskussion wieder und bleibt auch sonst weit hinter den Ideen, Vorstellungen und Möglichkeiten der Beteiligten zurück. Und auch von der Kampagne war anfangs keine Rede gewesen, deren Ziele sie so gar nicht teilt, weil sie im Prinzip eine „freiwillige Selbstkontrolle der Wirtschaft“ bewirbt. Hannah ärgert sich letztendlich doch, dass sie so viel Zeit und Energie hineingesteckt hat, wenn am Ende sowas dabei herauskommt, was sie am Anfang ja eigentlich schon kritisiert und befürchtet hatte: Das Papier enthält viele oberflächliche Allgemeinaussagen – denn wer wäre denn gegen „vertrauenswürdige KI im Sinne des nachhaltigen Gemeinwohls“? – und wenig fundierte Kritik oder konkret-konstruktive Ideen, dafür ist es jedoch unterschrieben von allen relevanten Personen aus der Kritiker*innen-Szene. Andererseits ist sie als Person nun bekannter, bekommt viel mehr Medienanfragen als vorher und kann somit ihre Arbeitsergebnisse und Ideen viel besser medial verbreiten.

Sie liest mit Interesse, dass einige ihrer aktivistischen Mitstreiter*innen in der Zeit, in der sie für das AI&I4F-Projekt gearbeitet hatte, an Gesetzgebungs-Konsultationen öffentlicher Stellen sowohl auf nationaler Ebene als auch auf EU-Ebene teilgenommen hatten, also direkt als Teil politisch-legislativer Prozesse – und sie hatte nicht einmal auf die E‑Mails ihrer alten Clique reagiert. Sicherlich sind diese Eingaben weit weniger medial beachtet worden, aber vielleicht wirken sie im Hintergrund, etwa weil EU-Parlament und Bundesregierung um Einschätzungen zum Thema der Regulierung von Digitalisierung allgemein und KI im Speziellen hinsichtlich Nachhaltigkeit gebeten hatten, was ja genau ihr Bereich gewesen wäre. Sie ist unsicher, wie sie das alles beurteilen und sich zukünftig zu solchen Initiativen wie AI&I4F verhalten soll, denn auch die Konsultationen werden natürlich nicht direkt umgesetzt. In der Nacht fällt Hannah wieder ein, was sie Jelena vor zwei Jahren noch gesagt hatte: „Aktivist*innen und auch Wissenschaftler*innen sollten sich gut überlegen, wofür sie ihre kostbare Zeit verwenden – und wofür eben nicht.“

Fragen

  1. Wie sind solche Veranstaltungen zu bewerten, sind sie nötig für einen sinnvollen gesellschaftlichen Diskurs? Welche Gefahren liegen darin?
  2. Das ganze Schloss wirkt nachhaltig gestaltet, reproduziert aber Klischees und scheint sehr künstlich zu sein. Ist das im Sinne einer guten Arbeitsatmosphäre zu befürworten?
  3. Wie hätte Hannah die Treffen in ihrem Sinne produktiver gestalten können?
  4. Ist es nicht besser, mehr Medieninteresse zu wecken, als thematisch tief im eigenen Kämmerlein zu arbeiten? Ist Hannah überkritisch was das angeht?
  5. Welche Formen demokratischer Partizipation sind zu befürworten, welche Kriterien könnten dafür angelegt werden und fielen die AI&I4F-Aktivitäten darunter?
  6. Unabhängig vom Fallbeispiel: Bei welchen gesellschaftlichen Themen wurde jüngst nach „Ethik“ und „Werten“ gerufen? War das Themenfeld tatsächlich neu und unbekannt, sodass es gesellschaftlich diskutiert werden muss oder aber sollte durch den Aufruf eine Regulierung verhindert werden?
  7. Braucht es einen Ethik-Kodex für Ethik-Kodizes, also Leitplanken und rote Linien für Ethikleitlinien, damit sie auch einen Beitrag liefern und nicht nur als Feigenblatt missbraucht werden?

Erschienen im Informatik Spektrum 44 (2), 2021, S. 131–133, doi: https://doi.org/10.1007/s00287-021-01347-x

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