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Fallbeispiel: »Die üblichen Verdächtigen«

Constanze Kurz & Stefan Ullrich

summa cum fraude
Alicia ist Schülerin der Doris-Lessing-Schule in München und gerade in die neunte Klasse gekommen. Im Informatikunterricht hat sie einen neuen Lehrer, Herr Rohse, der die Schüler in diesem Schuljahr in die theoretischen und praktischen Grundlagen des Programmierens einführen wird. Zu Anfang des Schuljahres versucht er, etwas Neugierde zu wecken und erklärt, was sie lernen werden. Er kündigt an, dass die Schüler am Ende des Schuljahres selbst Programme schreiben können werden, aber auch Interessantes über die Menschen lernen werden, die Programmiersprachen erfunden haben.

Herr Rohse spricht aber auch eine Warnung aus: Keiner der Schüler dürfe fremden Programm-Code kopieren, man müsse sich schon selber anstrengen. Auch die Text-Hausarbeiten und Referate sollen selbst recherchiert und nicht aus dem Netz kopiert werden. Er erklärt, dass die Schule eine Prüfsoftware erworben hat, die alle Quelltexte und Hausarbeiten – ohne Ausnahme – auf Plagiate untersuchen wird. Alle Programme, Referate und andere Texte müssen über ein Web-Formular im Computerraum der Schule zu Beginn der entsprechenden Unterrichtsstunde hochgeladen werden. Ein Referat darf nur dann gehalten werden, wenn die Software »grün« anzeigt.

Als Alicia nach der Schule ihren Eltern von dem neuen Informatik-Lehrer erzählt, erwähnt sie auch die Plagiatssoftware. Sie stört, dass sie als fleißige, ehrliche Schülerin unter Verdacht gestellt wird. Sie hat sich allerdings nicht getraut, etwas zu sagen. Alicias Mutter, Felizitas, ist erstaunt, denn im Elternbeirat war der Kauf einer solchen Software nicht zur Sprache gekommen, zumal dort zu Spenden für die technische Ausstattung aufgerufen wurde. Sie beschließt, bei der nächsten Sitzung danach zu fragen.

Als Felizitas in der Elternbeiratssitzung den hergebetenen Herrn Rohse nach der Plagiatssoftware fragt, erhält sie umfangreiche Auskunft sowie einen Probezugang, damit sie auch selbst testen kann, wie der britische Anbieter »Fair work« die Arbeiten testet.

Zuhause probiert sie es aus: Sie lädt einen Text aus der größten Online-Enzyklopädie herunter und reicht ihn bei »Fair work« zur Prüfung ein. Und siehe da: Er wird korrekterweise als Plagiat erkannt. Felizitas hatte beim Einloggen die Nutzungsbedingungen und eine »Data Policy« angezeigt bekommen und dann heruntergeladen, denn sie möchte sie später lesen.

Als sich Felizitas am Tag darauf die ziemlich langen Nutzungsbedingungen und die »Data Policy« durchliest, stößt sie auf Unerwartetes: »Fair work« archiviert sämtliche Arbeiten, die zur Prüfung hochgeladen werden, und behält sich das Recht zur kommerziellen Verwertung vor. Das hatte Herr Rohse nicht erwähnt, vermutlich auch nicht gewusst. Sie beschließt, den Plagiatsdienstleister erneut auf die Tagesordnung des nächsten Treffens des Elternbeirates zu setzen.

Es stellt sich heraus, dass tatsächlich niemand die Klausel in den Nutzungsbedingungen bemerkt hatte. Felizitas merkt an, dass auch Heranwachsende gefragt werden müssten, wenn ihre Arbeiten – egal ob Quellcode oder Textarbeit – einfach an Dritte weitergegeben werden sollen. Außerdem hätte sich das Unternehmen »Fair work« auch noch allerlei schwammige Rechte vorbehalten, was die Daten der Autoren und deren Weitergabe betreffe. Felizitas erklärt süffisant, sie sei keine »Juristin mit Spezialgebiet internationale Datenmafia«, um einschätzen zu können, was das eigentlich für die hochgeladenen Informationen über ihre Tochter bedeute. Und gehöre die Vermittlung der vielbeschworenen »Digitalen Mündigkeit« nicht auch zum Informatikunterricht, fragt sie.

Die Stimmung wird gereizt, weitere Eltern äußern sich kritisch. Allerdings sieht die Mehrheit der Elternschaft kein Problem in dem Vorgehen des Lehrers. Er habe schließlich die Aufgabe gestellt und dürfe auch die Bedingungen diktieren. Es sei zwar nicht schön, dass man alle Kinder unter eine Art Generalverdacht stellen würde, aber dass viele Arbeiten aus dem Netz geladene Kopien sind, bestreiten die Eltern nicht. Und am Ende seien es doch nur Arbeiten von Neuntklässlern, die Kirche solle man bitteschön im Dorf lassen.

FRAGEN:

    • Kann eine solche Plagiatssoftware dabei helfen, aus unehrlichen Schülern ehrliche zu machen? Ist dieser Ansatz für eine Schule angemessen?
    • Sollen schulische Arbeiten einer kommerziellen Verarbeitung zugeführt werden dürfen, wenn man dafür im Gegenzug einige Plagiate aufdecken kann?
    • Wäre es in Ordnung, wenn man die Schüler und Eltern vorab fragt, ob sie einverstanden sind? Müssten dann die Schülerarbeiten, deren Autoren nicht zugestimmt haben, einzeln und per Hand auf Plagiate getestet werden?
    • Macht es einen Unterschied, wenn die Plagiatserkennungssoftware auf dem Schulserver betrieben würde und die Daten lediglich für die Lehrerschaft einsichtig sind?
    • Wem gehören schulische Auftragsarbeiten? Hat der Lehrer nicht ein ebenso großes Bestimmungsrecht wie die Schüler? Schließlich hätten die Schüler ohne ihn den Text ja gar nicht verfasst.
    • Wäre die Schule verpflichtet gewesen, dafür zu sorgen, dass die Nutzungsbedingungen eines Dienstleisters vor dem Einsatz geprüft werden?
    • Sehen Sie einen Unterschied in der moralischen Bewertung, wenn es um Quelltexte statt um Textarbeiten geht?

Wir haben übrigens weitere Fallszenarien über Plagiate!


Erschienen in Informatik-Spektrum 37 (1), 2014, S. 59-60

1 comment to Fallbeispiel: »Die üblichen Verdächtigen«

  • H. Selters

    Die Schüler werden bei „Vertragsschluss“ darauf hingewiesen,
    dass ein Webformular zur Plagiatskontrolle verwendet wird.

    Aus urheberrechtlicher Sicht ist das nicht ausreichend, weil
    sich die Firma die weitere kommerzielle Verwertung vorbehält.
    Zwar ist diese Bestimmung aus wenigstens zwei Gründen
    unwirksam: einerseits, weil der Prüfling nicht Vertragspartner
    der Firma wird, andererseits, weil sich Nutzungsrechte nicht
    AGB-mäßig einräumen lassen (und die Einräumung nicht zu Unrecht
    überrascht, wie im Fall beschrieben). Ansprüche der Urheber
    entstehen jedoch erst, wenn die Firma tatsächlich zur
    Verwertung über den Vertragszweck hinaus schreitet. Mitbewerber
    und andere Berechtigte können jedoch gegen diese unlautere
    geschäftliche Handlung bereits vorgehen, solange die Bestimmung
    lediglich in den AGB enthalten ist.

    Datenschutzrechtlich ist es etwas komplizierter, da die Schule
    sicherlich öffentliche Stelle eines Bundeslandes ist, für die
    der Datenschutz durch Landesgesetz geregelt ist. Im Freistaat
    Sachsen zum Beispiel dürfen personenbezogene Daten
    grundsätzlich nicht auf privateigenen Datenverarbeitungsanlagen
    verarbeitet werden, die Ausnahmen sind hier nicht einschlägig
    (VwV Schuldatenschutz). Hier wären wir also ganz schnell fertig.

    mein Fazit: nein, keine Angabe, nein, ja, umfassend dem Urheber
    (ggf. Berechtigung für den Prüfer über § 31 Abs. 5 UrhG),
    soweit bereits datenschutzrechtlich unzulässig: nein,
    nein (Persönlichkeitsrecht in beiden Fällen verletzt)

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