Carsten Trinitis, Debora Weber-Wulff
Kevin ist Student der Informatik an der Universität Erdingen. Seit zwei Semestern studiert er wegen Corona zu Hause, und es nervt langsam gewaltig. Gerade seine Dozentin für Mathematik, Katrin, besteht darauf, das Niveau der Klausuren hochzuhalten, sodass man die Prüfung zwar nicht vor Ort, aber dennoch unter Zeitdruck schreiben muss. Kaum ein Kandidat ist in der Lage, alle Aufgaben innerhalb der vorgegebenen Zeit zu lösen.
Kevin schreibt daher Katrin und bittet darum, dass sie die Klausuren weniger schwer gestaltet, indem sie auf den Zeitdruck verzichtet – sie kann ja schließlich die Überwachungssoftware Panoptikum einsetzen. Die Universität hat Panoptikum sofort nach Beginn der Corona-Pandemie erworben, um die Integrität der Prüfungen auch online zu gewährleisten. Das System nutzt KI, um verdächtige Verhaltensweisen zu detektieren. Das hat die Hochschulleitung sofort überzeugt, als die Vertreterin der Firma das System vorgestellt hat. Es war auch nicht so teuer, einen Rahmenvertrag für die gesamte Hochschule abzuschließen, daher hat die Hochschulleitung gleich zugeschlagen, allerdings ohne mit dem Lehrpersonal Rücksprache zu halten.
Katrin ist strikt gegen Kevins Bitte, die Prüfung leichter zu gestalten. Den Vorschlag, Panoptikum einzusetzen, lehnt sie ab. Sie ist aktive Datenschützerin und listet in ihrer Antwort an Kevin minutiös auf, warum sie das ablehnt. Sie hält es für einen massiven Eingriff in die Privatsphäre der Studierenden: Nicht alle haben einen ruhigen, kinder- und tierfreien Arbeitsplatz, und die Systeme lassen sich sehr leicht überlisten. Man weiß auch nicht genau, welche Verhaltensweisen von der KI als „verdächtig“ klassifiziert werden. Dass also manchen Prüflingen verdeckte Nachteile entstünden, kann Katrin daher nicht ausschließen.
Panoptikum kann eine wirkliche Aufsicht nicht ersetzen, und vor allem will Katrin die Studierenden nicht unter Generalverdacht stellen. Zudem werden die Video- und Audiodaten irgendwo in der „Cloud“ gespeichert. Dabei ist völlig unklar, was die Firma noch mit den Daten vorhat, und wie lange sie diese aufbewahren wird. Schließlich ist auch noch eine Online-Marketing-Firma unter derselben Anschrift wie Panoptikum zu finden. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit diese Marketing-Firma mit Panoptikum zusammenarbeitet.
Kevin hält postwendend dagegen, „jede/r“ habe doch schließlich einen Rechner zu Hause. Katrin sagt: Nicht jede/r, manche müssen sich Geräte und vor allem Bandbreite mit anderen Familienmitgliedern teilen, und obendrein sind etliche Geräte uralt und haben gar keine Kamera. In Städten, in denen der Wohnraum begrenzt ist, teilt man oft ohnehin den Arbeitsraum mit Familie, Katze und Hund, und auch noch mit WG-Mitbewohnerinnen. Letztere können mitunter schon mal unbekleidet an der Kamera vorbeihuschen. Das habe sie alles in ihren Vorlesungen mitbekommen, wenn die Kamera eingeschaltet war.
Katrin weiß auch, dass es Dienste gibt, die innerhalb von wenigen Minuten gegen Bezahlung Mathematikaufgaben lösen können. Daher will sie den Umfang nicht zu gering halten und das Spektrum ihrer Lehrveranstaltung möglichst breit abdecken, um besser beurteilen zu können, welche Themen wirklich verstanden worden sind. Katrin bleibt also dabei, lässt die Klausur wie geplant schreiben – schwierig, auf hohem Niveau, dennoch bestehen alle.
Trotzdem beschwert sich ein Student, der „nur“ eine 3,0 in der Klausur bekommen hat, beim Hauptprüfungsausschuss. Er führt an, wenn die Klausur weniger schwer und überwacht durch Panoptikum durchgeführt worden wäre, hätte er definitiv eine 2,0 oder besser bekommen. Der Ausschuss informiert die Hochschulleitung, und diese fordert Katrin auf, dazu Stellung zu nehmen.
Katrin wiederholt ausführlich ihre Bedenken. Das sieht jedoch die Hochschulleitung nicht ein, sie will gerne eine moderne Universität sein, die den Segen von Digitalisierung und KI einsetzt, um weiterhin trotz Pandemie hochwertige Bildung anzubieten. Schließlich habe auch Kollege Karl Panoptikum eingesetzt, und damit gut 40 % der Teilnehmenden an seinen Prüfungen als Schummler entlarven können! Die Technik funktioniere also bestens. Gerade in der Fakultät für Informatik sei es nicht akzeptabel, dass eine Dozentin dieses Fachs digitale Werkzeuge in diesem Maße ablehnt. Die Hochschulleitung spricht eine Rüge gegen Katrin aus.
Katrin entschließt sich, Dirk, den Datenschutzbeauftragten der Universität, einzuschalten. Sie beginnt ihre Argumentation zunächst mit der Privatsphäre. Ja, sagt Dirk, es handelt sich um hochpersönliche sensible Daten, die dabei entstehen. Aber die Hochschule hat ja in ihrer Satzung festgelegt, dass dies im Ausnahmefall der Pandemie zulässig sein muss. Deswegen sei die Überwachung wasserdicht rechtlich abgesichert.
„Aber wo genau werden denn die Daten gespeichert?“, fragt Katrin nach. Die Firma sitzt doch in Serbien, und dabei handelt es sich nicht um ein Land der Europäischen Union. „Oh“, sagt Dirk, „das wusste ich nicht. Hmm. Was sollen wir jetzt tun, nachdem Kollegen wie Karl das System bereits bei etlichen Klausuren erfolgreich eingesetzt haben?“
Katrin plädiert dafür, dass alle Lehrenden selbst entscheiden sollen, ob sie eine Überwachung auf Distanz wollen oder nicht. Vor allem findet sie, dass die Studierenden ausführlich vorab über alle wichtigen Aspekte des Systemeinsatzes informiert werden müssen. Hier sieht sie Dirk als Datenschutzbeauftragten in der Pflicht, das sieht er jedoch anders. Das sollen die Dozierenden doch bitte selbst machen.
Katrin will aber keinen weiteren Ärger mit der Hochschulleitung haben. Sie ist unschlüssig, was sie im kommenden Semester tun soll …
Fragen
- Wäre es besser gewesen, wenn die Hochschulleitung zunächst einmal das Lehrpersonal konsultiert hätte, bevor sie die Software erworben hat? Hätten diese aber nicht grundsätzlich den Fortschritt gebremst?
- Ist es ein Problem, wenn eine Marketing-Firma unter derselben Anschrift wie Panoptikum firmiert? Sie müssen ja nichts miteinander zu tun haben. Welchen Aufwand muss die Hochschule betreiben, um eine Verbindung zwischen den beiden Firmen auszuschließen?
- Was sind die Mindestanforderungen an Datenschutzbeauftragte an Universitäten? Sollten sie nicht von vornherein über einen Fragenkatalog verfügen, mit dem sie derartige Systeme leichter prüfen und beurteilen können?
- Wussten die Studierenden bisher, dass die Daten von Panoptikum im Nicht-EU-Ausland gespeichert werden? Hätte es für sie einen Unterschied gemacht?
- Wer ist dafür verantwortlich, die Studierenden darüber aufzuklären, welche Daten erfasst werden, wo und wie lange sie gespeichert werden, und welche Aktivitäten oder Ereignisse als verdächtig eingestuft werden?
- Wie würden Sie sich entscheiden, wenn Sie Katrin wären?
- Wie bewerten Sie das Argument, man wolle eine moderne Hochschule sein und daher moderne Technik einsetzen? Hat dieses Argument eine ethische Dimension?
- Ist es vertretbar, wenn Studierende dazu gezwungen werden, der Nutzung eines Systems wie Panoptikum zuzustimmen? Sollte die Hochschule Studierenden, die nicht so überwacht werden wollen, eine Alternative anbieten?
- Sollten nicht in besonderen Zeiten wie der Corona-Pandemie die Prüfungen erleichtert werden, mit einfacheren Aufgaben, mehr Zeit, fehlender Aufsicht? Oder wertet das die Leistungen von Studierenden ab? Gelten „Corona-Diplome“ dann als weniger wert?
Erschienen im Informatik Spektrum 44 (3), 2021, S. 219–220, doi: https://doi.org/10.1007/s00287-021-01355-x
[…] 2021 – Fallbeispiel: Ich will überwacht werden!, C. Trinitis / D. […]